In seiner Rede entwirft Chefredakteur Claus Strunz ein Leitbild für das neue Jahrzehnt. Lesen Sie Auszüge.

Schon in wenigen Jahren werden die Silvester- und Neujahrsbilder aus Deutschland, die um die Welt gehen, nicht mehr allein vom Brandenburger Tor kommen. Das Feuerwerk über der Elbphilharmonie wird Hamburg zu einem neuen Leuchtturm der Republik machen. Von sehr Weitem, sozusagen Weltweitem sofort zu erkennen als kulturelle Krone einer Bürgerstadt, die weiß, dass sie ansonsten Kronen und andere Ehrenzeichen nicht braucht. Die sie auch von nichts und niemandem annimmt: Denn Hamburg und seine Bürger, wir erwirtschaften und bauen uns unsere Ehrenzeichen selbst!

Dieser Ort, die Elbphilharmonie, bietet eine völlig neue Perspektive. Das verpflichtet am Beginn eines neuen Jahrzehnts zu einem Ausblick. Was sollten wir aus dieser neuen Perspektive sehen? Sie eröffnet unbestreitbar einen Blick nach vorne. Er weist in die Zukunft, denn er steht für ein neues Stück Hamburg, mit neuen Themen und neuen Herausforderungen. Aber dieser neue Blick entsteht auch an einem Ort, der wie kaum ein anderer den Willen dieser Stadt repräsentiert, Visionen eben nicht nur als Geistesverwirrung zu begreifen, wie Helmut Schmidt es einmal völlig zu Recht zu bedenken gab. Sondern: Visionen wahr werden zu lassen.

Diese neuen Blicke sollten wir alle für das Jahr und die Jahre, die vor uns liegen, einnehmen wollen! Nur wenn wir das tun, nämlich einen neuen Blick auf uns, unsere Rolle als Bürger und unsere Stadt werfen, werden wir sehen, welche neuen Herausforderungen auf uns warten, und welche ungeheuren Chancen diese bieten. Wo, um im Bild zu bleiben, die nächste Peilmarke auf uns wartet, und wie wir sie erreichen können.

Welche Peilmarke könnte das sein? Das Jahr 2020 zum Beispiel? Eine "Agenda 2020" also? Agenden haben so ihren wechselhaften Charme - lieber Sigmar Gabriel, lieber Olaf Scholz, Sie können das sicher nachempfinden. Aber ohne einen festen Plan blieben viele Ideen Träumereien, würde kaum ein Ziel je erreicht. Also versuchen wir es einfach einmal mit dem Blick auf den "Bürger 2020". Er hat eine große Vergangenheit: Hanse, Handel, die Tradition des Ehrbaren Kaufmanns, Weltoffenheit - wir alle kennen seine Tugenden. Jetzt braucht er den Mut, diese - als Kontrapunkt - in die multimedial beschleunigte Egoismus-zentrierte Wirklichkeit von 2010 mitzunehmen und in die Zukunft hinein neu zu interpretieren. Ich bin sicher: Das Jahrzehnt des Bürgers hat begonnen.

Er, der "Bürger 2020", kann nicht nur die Antworten auf die Herausforderungen der nächsten zehn Jahre geben - er selbst ist die Antwort. Nur er hat wirklich die Kraft, die Gräben zwischen den Klassen wenigstens nicht tiefer werden zu lassen. Und er ist auch das wichtigste Schwungrad der Innovation. Denn wirklicher Wandel kann nicht von oben kommen, sondern muss durch aktive Bürger von unten initiiert werden. Der Bürger, den ich vor mir sehe, bringt etwas in die Gemeinschaft ein. Seine Währung dafür ist nicht unbedingt Geld, Steuer, Stiftung - bürgerliche Werte sind vor allem Zeit und Engagement. Oder noch anders: Wer etwas kann, soll davon genauso etwas ab- oder weitergeben wie der, der etwas hat. Wenn wir alle ein bisschen bürgerlicher in diesem Sinne leben und handeln, entsteht ein Immunsystem gegen Krisen, persönliche und die des Gemeinwesens.

Und so frage ich: Nimmt der "Bürger 2020" als Manager einen Bonus, der ihm rechtlich zusteht auch dann an, wenn sein Unternehmen in große Turbulenzen geraten ist?

Die Antwort lautet: vielleicht in München, Berlin oder Bottrop (und auch dort wäre es keine Ruhmestat) - aber nicht in Hamburg. Hier, in der Bürgerstadt, muss einem Unternehmensführer in dieser Situation etwas anderes einfallen. Er könnte sagen "pacta sunt servanda"- und das Geld in eine Stiftung einbringen. Er könnte einen Teil spenden. Er könnte von dem Geld die Schule der Kinder seiner Mitarbeiter renovieren. Kurz: Er könnte bürgerlich handeln.

Für das Hamburger Abendblatt, das große bürgerliche Medium dieser Stadt, ist die Idee vom "Bürger 2020" der Maßstab. Wir sind seine Zeitung! Wer sich verhält wie er, wird uns immer an seiner Seite haben. Wer anders durchs Leben zu kommen versucht, wird es mit dem journalistischen Ehrgeiz der Redaktion zu tun bekommen. Dabei kommt es nicht darauf an, woher er stammt - Hamburg, Deutschland, Türkei, USA, China, Ober- oder Unterschicht. Es kommt auch nicht darauf an, wie viel er hat, Millionen oder Dispokredit. Entscheidend ist allein, dass er etwas in die Gemeinschaft einbringt. Wir werden leuchtende Beispiele verstärken und vor abschreckenden warnen.

Ja, wir verstehen uns als Erste Bürgerzeitung dieser Stadt. Wie einen guten Ersten Bürgermeister verbindet uns Sympathie mit den Bürgern, wir mögen sie, kennen wie er ihre Sorgen und Nöte und helfen, so gut es geht. Wir kennen jede Meile, jede Straße, jeden Winkel. Wir kommen sogar in die Gänge - und geben den Bürgern Stimme und Gewicht, die sagen wollen, wie sie sich die Bürgerstadt der Zukunft vorstellen. Wir kämpfen leidenschaftlich für Hamburg und den Norden und unsere Interessen in Deutschland. Woche für Woche sagen wir etwas - laut und deutlich -, worüber anschließend das ganze Land spricht. Das alles tun wir in der guten, neuen Zeitung, vom Frühling an in modernisiertem Gewand mit noch mehr Exklusivstoffen, mehr Meinung, mehr Hintergrund. Kurz: qualitätsvoller, weltstädtischer, hamburgischer - eben noch bürgerlicher im besten Sinne.

Der "Bürger 2020", streitbar, engagiert, teilend und sich mitteilend, seinem Mitbürger in Freundschaft zugetan: Für dieses Ziel, das sich nur in Hamburg - dieser besonderen Stadt mit ihrer besonderen Tradition, aus der sich eine besondere Verantwortung ergibt - formulieren lässt, ohne sich der Gefahr der Weltfremdheit auszusetzen, für dieses Ziel lohnt es sich hart zu arbeiten, zu streiten, zu verändern, auch sich selbst.

Am Montag sehen Sie im Abendblatt sensationelle, bisher unveröffentlichte Fotos der Elbphilharmonie. Außerdem schreiben kommende Woche Persönlichkeiten aus Politik und Kultur über die "Bürgergesellschaft 2020".