Zum Start ins neue Jahrzehnt blickt das Abendblatt auf den “Bürger 2020“: Heute schreibt Joachim Lux, Intendant des Thalia-Theaters.

Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? - Das sind die klassischen Fragen jeder Gesellschaft, jeder Kultur, weil es die Grundfragen des Menschen sind.

Je nach Zeitgeistkonjunktur malen mal Apokalyptiker die Zukunft in finstersten Farben oder Utopisten entwerfen Visionen von einem grundsätzlich besseren Leben. Ob man selbst mehr dem einen oder dem anderen Lager zuneigt, hat mit einer absolut nicht klärbaren Frage zu tun, mit der Frage nämlich, ob man unsere Spezies für eine zum Guten oder Bösen befähigte hält. Zwischen beiden aber ist die unerquickliche Position des Sowohl-als-auch, es ist die Position des Praktischen, des Handlungsorientierten.

Das ist so in etwa die Grundlage unseres gesellschaftlichen Systems. Ich gebe zu, dass ich eine tiefe Skepsis in all die habe, die jetzt mal wieder nach einer geistig-politischen Wende rufen oder neue Gesellschaftsverträge wollen. Es würde völlig reichen, die alten Grundsätze auf die in der Tat gigantischen Anforderungen an die Zukunft anzuwenden. Was aber ist die Aufgabe der Zukunft?

Ich denke, sie hat in der Tat mit dem Begriff des "Bürgers" zu tun, mit der uralten Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen, einer Unterscheidung, die aus der Aufklärung stammt. Der Bourgeois vertritt die Interessen einer bestimmten sozialen Schicht, Citoyen dagegen ist jeder, ob alt, ob jung, ob reich, ob arm, ob Fremdling oder Einheimischer, ob Christ, Jude oder Moslem. Der Staat ist die Vereinigung all dieser Individuen und appelliert als Moderator an seine Staatsbürger, dass sie vornehmlich ans Gemeinwohl denken und nicht nur an sich selbst. Das heißt: Das Gesamtinteresse steht über den Partikularinteressen, Solidarität über dem Ego. Das gilt für den Staat wie auch für das städtische Gemeinwesen.

Hamburg zum Beispiel ist gemessen an der Zahl privat vermögender Bürger vermutlich die reichste Stadt Deutschlands. Aber es ist auch die Stadt, deren Großbürgertum sich dem Ethos verpflichtet hat, einen erheblichen Teil seines Reichtums in soziale und kulturelle Zwecke zu investieren. Wer das nicht tut, wird von der Ingroup an den sprichwörtlichen Hammelbeinen gezogen. Das ist der unausgesprochene Code der hamburgischen Bürgergesellschaft. Wenn ein solcher Code dagegen fehlt, steigt die Bereitschaft von Eliten, eine Gesellschaft zu ruinieren, und zwar proportional zu ihrer Möglichkeit, sich von der Gesamtgesellschaft zu isolieren - so Frank Schirrmacher in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise. Dieser Schock, der "uns Kleinanleger" beinahe in den Abgrund gerissen hätte, ist meines Erachtens auch die Erklärung für den ansonsten nicht leicht begreiflichen Umstand, dass die Bürger einer Stadt sich plötzlich für ein Stadtviertel, das Hamburger Gängeviertel, engagieren, nach dem ein Dutzend Jahre kein Hahn krähte. Wenn man schon gegen die großen globalen Finanzströme wenig machen kann, kann man sich doch wenigstens zu Hause gegen den Primat des rein Ökonomischen wehren und in die Gänge kommen. An diesen inneren Werten einer stadtbürgerlichen Kultur zu arbeiten ist eine zentrale Aufgabe des "Bürgers 2010", damit der "Bürger 2020" eine Zukunft hat. Und hierzu gehört natürlich auch die Bewahrung der kulturellen Institutionen der Stadt. Die sich allerdings auch öffnen müssen, nicht nur für das Bürgertum, sondern tatsächlich für die Bürger der Stadt. So geschehen etwa im Thalia-Theater zu Saisonbeginn, wo wir das Theater symbolisch an diejenigen zurückgegeben haben, denen es in Wahrheit gehört: den Bürgern der Stadt.

Der Bürger des Jahres 2020 aber wird sich noch in ganz anderer Weise für das Gesamte engagieren müssen. Dazu muss er den Gedanken vom Citoyen über den Staat hinaus auf die Gemeinschaft der Weltbürger erweitern: Kosmo-Polis, wie schon die Griechen meinten. Denn hier liegen die wahren Herausforderungen unseres Jahrhunderts. Die Diskussionen um eine "Leitkultur", Themen wie Integration, US-Präsident Obamas "Salamu alaikum" in Kairo, der Streit um den iranischen Intellektuellen Kermani, der um den Bau von Moscheen, letztlich auch der um die schulische Primarstufe - all das spricht eine einzige Sprache: Es geht nicht mehr, dass wir uns abschotten, weder innerhalb unserer Städte, ihren Erziehungssystemen und kulturellen Institutionen noch aber auch nach außen. Wenn wir nicht schwer aufpassen, wird die Bastion Schengen-Europa, die wir mit Waffengewalt in Gibraltar und anderswo verteidigen, in einem Weltbürgerkrieg fallen.

Adolph Muschg war einer der Ersten, die vor ein paar Jahren meinten, man müsse an einer kosmopolitischen Kultur arbeiten. Mittlerweile meinen viele, die Einwanderer in den reichen Industrienationen seien die Avantgarde einer neuen kosmopolitischen Kultur. Begriffsblüten wie "Eurabien" machen die Runde ... Die Herausforderungen, die sich damit verbinden, sind hammerhart: Es geht um die ökonomischen Verteilungskämpfe, um den Umgang mit Ressourcen wie Luft, Wasser, Klima, Energie. Es geht darum, dass wir unsere Einfuhrbestimmungen so gestalten, dass wir den Wohlstand anderer Nationen nicht verhindern. Es geht darum, ob wir bereit sind, auf einen erheblichen Anteil unserer Gehälter zu verzichten, weil wir uns als Marktteilnehmer an der Unterdrückung und Ausbeutung von Millionen von Menschen beteiligen und zu Dumpingpreisen kaufen, obwohl wir genau wissen, dass das nicht in Ordnung ist. Und es geht natürlich um die Frage nach dem eigenen kulturellen Ich. Was meint der Begriff der Toleranz gegenüber anderen Ethnien, Kulturen, Religionen für das tatsächlich gelebte Leben? Verwandelt sich der Einzelne in ein alles amalgamisierendes Hybrid-Ich oder bleibt er der, der er war?

Fragen über Fragen, Fragen einer Zeitenwende, Fragen, die sich das Thalia-Theater ab kommenden Sonntag im Rahmen seines vierzehntägigen Festivals "Um alles in der Welt - Lessingtage 2010" stellen wird. Fragen, die schon Lessing hatte, als er einige Jahre in Hamburg lebte, Fragen, auf die der "Bürger 2020" vielleicht schon ein paar mehr Antworten hat als wir.

Bürger, Stadtbürger, Staatsbürger, Weltbürger - ein Bürger, der über den Tellerrand sieht, sich "um alles in der Welt" sorgt: Das wäre das Bild vom "Bürger 2020", aber auch noch von dem "Bürger 2070", der die Welt als kleiner Schreihals schon heute bevölkert. Zugegeben, daran kann man nur scheitern, die Aufgabe ist zu groß, aber wir können uns bemühen, unsere Kinder so fit wie möglich für diese Zukunft zu machen.