Zum Start ins neue Jahrzehnt blickt das Abendblatt auf den “Bürger 2020“: Wie wird er leben? Ein Beitrag von Thomas Straubhaar.

"Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst." Es war an einem sehr sonnigen, wenn auch sehr kalten Wintertag im Januar 1961 als der junge, neu gewählte amerikanische Präsident John F. Kennedy in seiner Ansprache an die Nation von der Bevölkerung genau diesen moralischen, gesellschaftlichen Neuanfang forderte. Mehr noch verlangte er von seinen Landsleuten: "Konzentriert euch nicht auf das, was euch trennt, sondern auf das, was euch verbindet."

Benötigt die Welt, brauchen Deutschland und Hamburg nach der schärfsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, die das Vertrauen der Menschen in die wirtschaftliche Elite und die positiven Kräfte freier Märkte erschüttert hat, ebenso einen gesellschaftlichen Neubeginn? Muss es zu einer "geistig-politischen Wende" kommen, so wie sie Außenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle letzte Woche auf dem Dreikönigstreffen in Stuttgart gefordert hat? Bedarf es der vom Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Claus Strunz, beim Neujahrsempfang angemahnten Bürgergesellschaft 2020: "Wer etwas kann, soll davon genauso etwas ab- oder weitergeben wie der, der etwas hat?" Ohne Zweifel ja. Es ist an der Zeit, wenn nicht sogar höchste Zeit, dass sich die westlichen Gesellschaften, besonders Europa und damit auch Deutschland, einen neuen Gesellschaftsvertrag geben. Ein neuer Gesellschaftsvertrag soll die Leitlinien einer Bürgergesellschaft 2020 abstecken. Eckpunkte müssten sein: die miteinander geteilten, verbindenden Gemeinsamkeiten, Werte und Vorstellungen über das Leben und Arbeiten im Deutschland der Zukunft. Nur auf dieser gemeinsamen Basis lassen sich die immensen strukturellen, demografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts bewältigen. Dazu gehören der Aufstieg Südostasiens ins Zentrum der Weltwirtschaft, der religiöse Fundamentalismus, der Kampf um Energie und gegen die Klimakatastrophe. Dazu gehören auch die weiter voranschreitende Individualisierung und die wachsende Heterogenität der Gesellschaft. Dazu gehören die Schrumpfung und Alterung der europäischen Bevölkerungen oder die gigantischen Staatsschulden.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag für die Bürgergesellschaft 2020 muss erstens die aus der Aufklärung fließenden europäischen Grundwerte der individuellen Freiheitsrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie erneuern und bestärken.

Er muss zweitens Chancen zur ökonomischen Teilhabe unbesehen von Herkunft und Status der Eltern sichern. Denn - wie es John Rawls ausgedrückt hat: "Freiheit haben oder auch frei sein, heißt ,Möglichkeiten haben'" ... Deshalb müssen Startchancen und insbesondere der Zugang zu einer Bildung, die den Fähigkeiten und Möglichkeiten junger Menschen entspricht, für die Kinder einkommensschwächerer Haushalte durch staatliche Maßnahmen verbessert werden.

Drittens muss subsidiär, aber eben nach- und nicht vorrangig dafür gesorgt werden, dass niemand in unverschuldeter Not alleine gelassen wird. Selbsthilfe geht vor Staatshilfe und zivilgesellschaftliche vor staatliche Solidarität. Die DNA-Kette der gegenseitigen Hilfe zwischen Kindern und Eltern, alten und jungen, gesunden und kranken Familienmitglieder soll nicht gegenüber der öffentlichen Unterstützung diskriminiert und abgewertet werden. Das gilt vor allem in Zeiten nach der Weltwirtschaftskrise, in denen staatliche Sozialprogramme an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit stoßen. Genau deshalb hat der Wirtschaftshistoriker Harold James so recht: "Die Geschichte zeigt: Das beste Investment ist das in die Entwicklung seiner selbst und der Familie."

Viertens verlangt das Postulat der Fairness, dass Macht und Diskriminierung beim Wettbewerb um wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Positionen zu verhindern sind. Nur so ist für alle die Chance gewährt, durch eigene Leistung den Lebensunterhalt zu verdienen, aufzusteigen, ja sogar zu Wohlstand zu gelangen. Nur so kann die Marktwirtschaft die Basis der sozialen Umverteilung bilden. Deshalb muss der Staat für einen funktionierenden Wettbewerb auf freien Märkten sorgen und Marktmacht verhindern. Wenn während der Finanzmarktkrise immer wieder von einem "too big to fail" und von "systemgefährdender" Größe Not leidender Banken die Rede war, wird genau dieses Grundprinzip angesprochen. Größe tendiert immer zu Macht und Monopol zulasten von Kunden und Bürgern. Beides muss durch eine entsprechende Wettbewerbs- und Fusionsgesetzgebung verhindert werden. Auch das ist eine Lehre aus der Weltwirtschaftskrise.

Fünftens braucht die Bürgergesellschaft 2020 ehrbare Kaufleute, die mit Augenmaß und Verantwortung nach betriebswirtschaftlichem Erfolg und gesamtwirtschaftlicher Prosperität streben. Sie braucht den Realismus der Bevölkerung, dass die Marktwirtschaft nicht perfekt, aber besser als jede Alternative ist. Sie braucht die Gelassenheit der Menschen, dass Freiheit und Offenheit zwangsläufig zu Unsicherheit und Unvollkommenheiten, Fehlern und Krisen führen müssen, dass aber gerade Freiheit und Offenheit die beste Grundlage zu deren Bewältigung sind. Sie braucht die Klugheit der Meinungsmacher, dass Wachstum nicht alles ist, aber ohne Wachstum alle kommenden Herausforderungen viel schwieriger zu bewältigen sein werden.

Sechstens bedarf die Bürgergesellschaft 2020 moralischer Werte. Es sind die juristisch nicht einklagbaren Normen jenseits von Angebot und Nachfrage und jenseits der ökonomischen Leistungsfähigkeit, die aus einer Rechts- oder Wirtschaftsvereinigung eine Bürgergesellschaft machen. Je mehr Menschen sich aus Überzeugung, Anstand und Gewissen an gemeinsame Wertvorstellungen halten, desto reibungsloser funktioniert die Ökonomie. Man kennt und vertraut sich. Künftige Handlungen sind berechenbar. Es muss nicht jedes Mal viel Aufwand betrieben werden, um zuverlässige Erwartungen über das Verhalten in bestimmten Situationen zu erhalten. Vielmehr kann auf Erfahrungen aus der Vergangenheit aufgebaut werden. Wir helfen Nachbarn, weil sie auch uns helfen werden.

Die "Wie-du-mir-so-ich-dir"-Strategie bewährt sich auch und gerade im Alltag. Je freiwilliger ein Mensch etwas tut, für das er oder sie weder durch staatlichen Zwang verpflichtet noch ökonomisch direkt entschädigt wird, desto größer ist der Nutzen für die Gemeinschaft. Das durch die Einhaltung von Moral und Normen aufgebaute Sozialkapital ist umso nützlicher, je mehr alles im Fluss ist und unbekannte Veränderungen Unsicherheit erzeugen. So wie es nach der stärksten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit mehr denn je der Fall sein wird.

Morgen lesen Sie einen Beitrag von Klaus-Peter Schöppner