Sigmar Gabriel erlitt den ersten Rückschlag in seiner steilen Karriere. Jetzt versteht er die Welt nicht mehr.

Hannover. Sigmar Gabriel hat eine beispiellose Karriere gemacht, indem er immer alles anders gemacht hat als alle anderen. Eigene Plakatideen im Landtagswahlkampf, betonte Aufmüpfigkeit im Landtag, eine andere Sprache, eine provozierende Beratungsresistenz und unbegrenzte Angriffslust. In der Stunde der Niederlage aber wirkt er wie alle Verlierer: Er versteht die Welt nicht mehr. Und dementsprechend blendet er die Realität erst einmal aus. Noch bevor er vor die Kameras tritt, lässt er sich von den Genossen im SPD-Fraktionssaal des Landtags mit Klatschmarsch feiern wie ein Sieger. Seine neue Devise: "Der Ball ist rund, Freunde! Das Rückspiel ist in fünf Jahren!" Ohne auf eigene Fehler einzugehen, nennt er das Ergebnis "sehr, sehr schwierig". Da muckt immerhin ein Genosse an einem der Stehtische leise auf: "Das ist nicht schwierig, das ist unser schlechtestes Ergebnis aller Zeiten!" Jetzt rächt sich, was Gabriel bislang vermutlich für besonderes Glück gehalten hat: Seit er 1987 als Kreistagsabgeordneter im heimischen Goslar anfing, ist der Politiker von kleinen oder großen Rückschlägen stets verschont geblieben. Verlieren hat er nicht gelernt. Kalkulierte Renitenz hatte ihn steil nach oben getragen. Nach nur acht Jahren im Landtag kürte die SPD-Fraktion ihn 1998 zum Vorsitzenden. Ein Jahr später war er bereits so mächtig, dass er den Sturz des glücklosen Kurzzeitministerpräsidenten Gerhard Glogowski wohlwollend begleiten und ihn dann beerben durfte. Gabriel hielt, was die Umstürzler sich erhofft hatten: Binnen drei Jahren sicherte er der SPD die Meinungsführerschaft im Lande, verjüngte das Kabinett, grub der CDU mit immer neuen Ideen und noch mehr Sinn für öffentliche Auftritte das Wasser ab. Aus dem Bauch heraus wusste er zuverlässig, wo die SPD offensiv werden musste, wann drohendes Ungemach mit "Task Forces" abzuwenden war und wie man notfalls auch dadurch wieder an die Spitze der Bewegung gelangt, dass man Positionen der Konkurrenz im neuen Gewande als die eigenen verkauft. In die Irre führte ihn sein Bauch erst, als die SPD nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl im September 2002 in der Wählergunst abstürzte. Hin- und hergerissen zwischen Loyalität zu seinem Mentor und Vorgänger Gerhard Schröder und den Abgründen der Berliner Missklänge riskierte Gabriel ein Doppelspiel: persönliche Nähe zu Schröder, inhaltliche Distanz zur Bundesregierung. Der Spagat ging gründlich schief. Gabriel wurde von den Wählern umso mehr als Teil der Berliner Zwiespältigkeit wahrgenommen, wie er sich in die Bundespolitik einmischte. Was nun? Auf dem Höhepunkt seiner Popularität hat Gabriel ausgeschlossen, im Falle einer Wahlniederlage Oppositionsführer im Landtag zu werden. Doch gestern Abend deutete sich an, dass ihn dieses Geschwätz von gestern vielleicht nicht mehr schert. Gabriel strebt womöglich den Fraktionsvorsitz im Landtag an. Aber hält einer wie er es fünf Jahre lang aus, hinaufzuschauen zu Christian Wulff auf der Regierungsbank? VOM "FALKEN" ZUM MINISTERPRÄSIDENTEN Sigmar Gabriel wird am 12. September 1959 in Goslar geboren. Während Schul- und Studienzeit (Lehramtsstudium 1982 bis 1987 in Göttingen) engagiert er sich in der SPD-nahen Sozialistischen Jugend (SJD) und bei den "Falken". Die Diskussionen am Lagerfeuer prägen ihn und sind, so sagt er, "mehr wert als professionelle Rhetorik- Schulungen". Der Eintritt in die SPD folgt 1977. 1990 Abgeordneter im Landtag, 1994 innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, 1998 Fraktionsvorsitzender. Als Ministerpräsident Gerhard Glogowski (SPD) nach einer Finanzaffäre 1999 zurücktritt, wird Sigmar Gabriel zum Nachfolger gewählt. Doch seine erste Landtagswahl verliert er gleich.