Wer im 19. Jahrhundert Plätzchen oder Brot backen wollte, mußte in die Apotheke - er brauchte Hirschhornsalz, Weinstein und Pottasche.

Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, werden wieder Plätzchen und Christstollen gebacken, ihr feiner Duft erfüllt die Wohnung. Mit Backpulver gelingt dies auch weniger Geübten. Das war nicht immer so.

"Man nehme . . .", so beginnen bei Henriette Davidis alle Backrezepte. Die berühmte Köchin aus Wengen (heute Wetter)/Ruhr schrieb ihren Kochklassiker 1844. Für die Weihnachtsbäckerei werden dort Zutaten wie Hirschhornsalz, Pottasche oder Weinstein verlangt. Backpulver gibt es nämlich erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu kaufen. Sein Erfinder hatte allerdings nicht Kuchen, sondern Brot im Sinn.

Justus von Liebig (1803-1873), Begründer der Agrikulturchemie, war überzeugt, daß beim Brot die Chemie nicht stimmt. Brot galt damals als knappes Gut, der Ruf nach mehr Brot läutete Revolutionen ein. Liebig wußte, daß die Lockerheit des Laibes durch Kohlendioxid bewirkt wird, das bei der Gärung des Sauerteiges entsteht. Beim Gärvorgang wird Mehl verbraucht. Zu viel Mehl, wie Liebig kritisierte. Allein in Deutschland könnte man daraus für zusätzliche 400 000 Menschen Brot backen, rechnete er vor.

Liebigs Alternative: Er nahm Natron statt Hefe und setzte die im Natron enthaltene Kohlensäure durch später zugegebene Salzsäure frei. Er fand 1833 eine Verbindung von Natron und Monokalziumphosphat, die beim Mischen mit Wasser Kohlendioxid in kontrollierten Mengen freigab. Darauf beruhen Backpulver noch heute. Als Backhilfe für den Alltag taugte Liebigs Erfindung nicht so recht. Sie war nicht lange haltbar und zudem teuer.

Wollte eine Hausfrau Anfang des 19. Jahrhunderts ganz sicher sein, daß ihr der Kuchen geriet, so mußte sie eine Apotheke aufsuchen. Nur dort konnte sie Hirschhornsalz und Weinstein erstehen, die den Teig gehen ließen und für eine lockere Konsistenz sorgten. Gereinigter Weinstein und Hirschhornsalz waren allerdings in ihrer Wirkung nicht genau kalkulierbar.

Dann, 1893, hatte ein Apotheker aus Bielefeld, so erzählt es die offizielle Firmengeschichte, die Idee seines Lebens: August Oetker (1862- 1918) kaufte 1891 die Aschoffsche Apotheke im Stadtzentrum von Bielefeld. In seinem Elternhaus war er mit dem Duft einer Backstube aufgewachsen. Und er wußte um die Mühen der Hausfrauen, wenn es galt, Kuchen oder anderes Gebäck herzustellen. Oetker suchte nach einem Triebmittel.

Im Hinterzimmer seiner Apotheke am Alten Markt, seiner "Geheimbutze", mischte der promovierte Pillendreher die verschiedensten Substanzen. Bis spät in die Nacht hantierte er mit Apothekerwaage, Mörser und verschiedenen Pülverchen. Teiglockerung, Haltbarkeit und Geschmacksfreiheit - das waren seine Ziele. Als Produkt seiner Tüftelei stellte er nach zwei Jahren sein Backpulver "Backin" vor. "Eine Mischung ohne Fehlzündung", so sein erster Kommentar. Oetker garantierte den Käufern, daß fortan jeder Kuchen gelingen werde. 60 Jahre nach Liebigs Erfindung leitete Oetker eine neue Ära des Kuchenbackens ein.

Im Gegensatz zu einem anderen Erfinder namens Norton Horsford, einem Schüler Liebigs, der Bäckern in den USA sein "baking powder" empfahl, richtete sich Oetkers Vermarktungsstrategie vornehmlich an Hausfrauen. In Tütchen abgepackt, verkaufte er Portionen von je 16,5 g für zehn Pfennig. Genau abgestimmt für haushaltsübliche 500 Gramm Mehl. Das war die Geburtsstunde der deutschen Backpulverindustrie. Bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert erschien auch der berühmte Hellkopf auf der Papiertüte. Oetker setzte ganz auf Markenbindung und auf Werbung. Und als die Bilder laufen lernten, da quoll der erste Teigklumpen dank Dr. Oetkers Backpulver sehr schnell sehr groß vor den Augen des staunenden Publikums auf.

Liebigs Sorgen um das Volksnahrungsmittel Brot sind bei uns lange ausgeräumt, von seiner Erfindung profitieren heute die Liebhaber süßer Sachen. Jochen Bode vom Deutschen Backmittelinstitut: "Obwohl Backpulver ursprünglich für Brot erfunden wurde, hat es in diesem Bereich heute keine Bedeutung mehr. Im Bereich der feinen Backwaren ist es jedoch unentbehrlich."