Oberelsass: 12 000 Kilometer Wanderwege warten auf den Besucher. Hier liegt alles dicht beisammen: Haute Cuisine und Bauernkost, Einsamkeit und Touristenrummel, Kunst und Kultur.

Meine Herausforderung am Berg" nennt Monsieur Schoenheitz fast zärtlich seine Weinlage "Linsenberg". Mit bis zu 45 Grad Steigung klettern die Reben beim Weinort Wihr-au-Val im Munstertal himmelwärts. Aber auch die steilen Hänge von "Val Saint Gregoire", "Holder" und "Herrenreben" machen die Arbeit im Weinberg nicht eben leicht. Doch Henri Schoenheitz will es so: "In diesen Steillagen reift höchste Qualität heran." Und nur damit kann der ambitionierte Winzer auch ein gutes Geschäft machen.

Wie jedes Jahr in den Sommermonaten nimmt er sich die Zeit, interessierte Besucher durch sein Rebenreich zu führen. Bringt hier der Lehmboden charaktervolle Rieslinge und Gewürztraminer hervor, so liebt der Grauburgunder Granitböden, der elegante Pinot Noir dagegen sandige Erde. Für den Cremant, den trockenen Sekt nach der Champagnermethode, wird Pinot Blanc genommen. Nach dem lehrreichen wie schweißtreibenden Rundgang können die Teilnehmer bei der Verkostung im kühlen Keller den Wein umso mehr würdigen.

Henri und Dominique Schoenheitz bauen als einzige Winzer im Ort ihre Weine wieder selbst aus, denn der Weinbau - obwohl schon seit Römerzeiten hier gepflegt - wird in Wihr-au-Val nach massiven Zerstörungen in beiden Weltkriegen erst wieder seit den 70-er Jahren intensiv betrieben.

Gleich hinter dem Ort kündigt melodisches Bimmeln die nächste Spezialität des Tales an: Abrupt wechselt die Wein- zur Weidewirtschaft. Die kleinen Vogesenkühe mit ihren sanften Augen und dem markanten Streifen auf dem Rücken liefern besonders fette Milch - Rohstoff für den berühmten Munsterkäse. Doch erst einmal lassen wir die Kühe links liegen und suchen ein Quartier für die nächsten Tage: möglichst ländlich-idyllisch gelegen, die Wanderwege mögen bitte gleich vor der Haustür beginnen, und nach Colmar und zu schönen Winzerorten an der Route du Vin sollte es auch nicht allzu weit sein. Voilà: "Le Londenbach - Chambres et Table d'hôtes" steht auf einem Schild oberhalb von Soultzeren. Hier mitten im Munstertal haben Marie-Helene und Luc Goertz ihre Vorstellung vom natürlichen Leben mit einem ausgebauten Bauernhaus verwirklicht. Viele Jahre hatten sie in Colmar ein Restaurant betrieben - immer mit vollem Einsatz, bis die Kinder auf eigenen Füßen stehen konnten. "Hier leben wir nun bescheiden und gesund", strahlt Marie. Und es fehlt ja wirklich an nichts. Die fünf Zimmer vermieten sich gut, und Luc verwöhnt seine Gäste gern mit regionaler Küche. Fleisch und Gemüse stammen von den benachbarten Bauern, der Wein vom Winzer im Tal, Brot wird täglich selbst gebacken, Wildkräuter und Beeren für die Marmelade sammelt Marie gleich hinten im Wald. "Das ist kein Hotel, das ist ein Familienhaus", sagt Luc. Promenadenmischung Belix bellt zustimmend. Da sitzen die Gäste im Wohnzimmer um den Tisch, tafeln gemeinsam, und Luc gibt Tipps für Wanderungen und was man sonst so in der Gegend tun kann. Bei schlechtem Wetter lässt sich der gelernte Koch auch mal zu einem Kursus über echte elsässische Spezialitäten bewegen.

Mehr als 12 000 Kilometer Wanderwege durchziehen die Vogesen, 350 allein das Munstertal. Auch vom "Le Londenbach" kann man auf immer neuen Routen in alle Richtungen losmarschieren. Zum Grünen und Schwarzen See oder zum Lac de Forêt beispielsweise, zu der aussichtsreichen Kammstraße oder hinunter nach Stosswihr zur sagenumwobenen Dagobertshöhle, wo aus dem nahen Toteseemoor das Jammern armer Seelen aufsteigen soll. Den Gipfel des Wanderglücks aber bescheren die Fermes-Auberges, die bewirtschafteten Bauernhöfe - eher nüchtern-praktische als blumig-prächtige Gehöfte auf den Hochalmen der Vogesen.

Was kann es Schöneres geben, als nach stundenlangem Auf und Ab rund um den Petit Ballon in der Ferme-Auberge Rothenbrunnen die müden Füße unter den Tisch zu strecken, den Fernblick auf den Hauptkamm zu genießen und (zumindest beim ersten Mal) mutig ein komplettes Melkermenü zu bestellen? Es beginnt mit einer Gemüsesuppe aus der Terrine, darauf folgt eine deftige Fleischpastete. Nun ist man ja eigentlich schon satt. Aber es wollen noch "Roigebrageldi", Elsässer Bratkartoffeln mit Kassler sowie Heidelbeerkuchen oder "Siaskas" (Süßkäse mit Zucker und Kirschwasser) vertilgt werden.

"Nächstes Mal die kleine Mahlzeit bestellen!", ruft Wanderführer Valentin amüsiert den Neulingen zu. Seit 25 Jahren bringt er Besuchern die Schönheiten der Vogesen nahe: Ochideenwiesen und Felsenpfade, Aussichtskuppen und Wasserfälle. Jetzt ist Valentin mit einer kleinen Gruppe beim "Wandern ohne Gepäck" von Ferme zu Ferme unterwegs. Etliche der Gehöfte bieten einfache Zimmer und Schlafsäle für uriges Schlummern an, wie auch Jean-Claude Lochert vom Rothenbrunnen. Das touristische Angebot ist für viele Vogesenbauern nicht nur ein willkommenes Zubrot, sondern überlebensnotwenig. Die Schätze dieser Höfe aber lagern im Keller: Laibe würzigen Munsterkäses. Den setzt Monsieur Lochert jeden Morgen nach dem Melken höchstpersönlich an. Die Käse werden drei Wochen gelagert und müssen immer wieder mit Salzwasser abgewaschen werden. Den Duft des Munster kann man lieben oder nicht - schmecken tut er göttlich.

Mit Genüssen ganz anderer Art kitzeln die Kreationen des Konditormeisters und Chocolatiers Thierry Gilg den Gaumen - für die Stadt Munster fast schon so ein Wahrzeichen wie die Storchennester auf dem Rathaus und den Klosterruinen. Kann man schon beim Blick in die Patisserie in der Grand'rue den Kuchen- und Eisverführungen kaum widerstehen, besteht bei den Pralinen Suchtgefahr! Was mit der kleinen Konditorei des Großvaters begann, hat Thierry mit viel Kreativität zu einem weit über das Elsass hinaus bekannten Spezialitätenhaus gemacht. "Ich habe in Paris und in der Provence bei den großen Meistern gelernt", erklärt der Konditor seine vielen Ehrenpreise. Und experimentiert an neuen Schöpfungen: "Zwarigala", Heinzelmännchen-Trüffel mit Bergkräutern etwa oder "Le petit Munster", Bitterschokolade mit Mandelsahne in Marc de Gewürz. Einem weiteren Meister seines Faches schauen wir im nahen Luttenbach über die Schulter. Andre Haeberle ist Sabotier, sprich Holzschuhmacher. Die praktischen Clogs haben nicht nur in Holland Tradition, schließlich wird in der Werkstatt von Familie Haeberle schon seit 1880 gesägt, gefräst und ausgehöhlt. Noch immer ist ein Teil der vom Urgroßvater ausgetüftelten Maschinen in Betrieb. Jeden Tag um 14 Uhr zeigt Andre den staunenden Besuchern, wie aus einem Rohling aus Ahorn-, Kastanien- oder Lindenholz haltbare, wetterfeste Holzschuhe entstehen. Die seien im Stall, im Garten und auf dem Feld viel angenehmer zu tragen und gesünder als Gummischuhe. Und überhaupt habe ja auch einer der berühmtesten Söhne des Elsass schon die Haeberleschen Sabots geschätzt: Albert Schweitzer, der sein Leben lang mit dem nur wenige Kilometer entfernten Gunsbach verbunden war.

Hier wirkte der Vater des späteren Urwalddoktors als Pfarrer. Hier hat der kleine Albert die Dorfschule besucht und in der Kirche mit dem Orgelspiel begonnen. Und in Gunsbach hat sich Schweitzer 1928 vom Geld des Goethepreises der Stadt Frankfurt ein Haus gebaut, in dem er wohnte, wenn er nicht in Afrika oder zwecks Spendenbeschaffung auf seinen Konzertreisen unterwegs war. Sonja Poteau, guter Geist und Leiterin des heute als Museum und Archiv genutzten Hauses, lernte den Arzt und Menschen Albert Schweitzer in ihren Jahren als Hebamme in Lambarene schätzen. Bei Madame Poteaus Erzählungen scheint wieder Leben ins Haus einzuziehen: Das Arbeitszimmer mit dem einfachen Schreibtisch, weißem Stahlbett und Bildern - es ist noch unverändert, so wie Schweitzer es bei seinem letzten Besuch 1959 verlassen hat. Schade, dass dieses sympathische Museum im Gegensatz zum Schweitzer-Geburtshaus in Kaysersberg wenig bekannt ist - aber vielleicht kann es sich ja gerade deshalb seinen Charme erhalten.