Arles: Wo Vincent van Gogh 444 Tage gelebt und gemalt hat. Die Spuren des genialen Künstlers locken jährlich Tausende Besucher in die Provence.

Eine Kleinstadtstraße auf 60 Quadratzentimetern ist 30 Millionen Euro wert. Ein südfranzösisches Wohnzimmer auf weniger als einem halben Quadratmeter, das nichts als den Hintergrund für einen Mann mit Mütze bildet, bringt es auf mindestens 20 Millionen Euro. Eine Klappbrücke am Kanal auf einem Stück Leinwand ist vollends unbezahlbar: Auf etwa 200 Gemälden und über 100 Zeichnungen hat Vincent van Gogh Szenen aus Arles und Umgebung festgehalten. Heute, fast 120 Jahre nach ihrer Entstehung, zählen sie zu den teuersten Gemälden der Welt. Mit jedem einzelnen davon hat er Kunstgeschichte geschrieben. Gebäude, Gärten, Menschen, gehandelt auf spektakulären Auktionen, ausgestellt in den bedeutendsten Museen rund um den Globus - lauter farbintensive Visitenkarten Südfrankreichs.

Von Februar 1888 an hat der Mann aus Holland insgesamt 444 Tage in Arles gelebt und gemalt. Dabei ist der 35jährige van Gogh nur durch Zufall in das provenzalische Städtchen am Rhône-Delta geraten. Wer heute hierher reist, tut es mit Absicht und ist zumeist auf den Spuren des merkwürdigen Malers unterwegs, der die Kunst revolutionierte. Van Gogh wollte damals in den Süden, wollte das besondere Licht dort genießen, sich davon inspirieren lassen - und er wollte ausdrücklich nicht an die Küste. An der letzten Station vorm Mittelmeer stieg er aus dem Zug, 45 Kilometer vom Strand entfernt - und stand auf dem Bahnhof von Arles. Im Süden, hat er gesagt, werden die Sinne erregt, wird die Hand gewandter, das Auge schärfer, das Hirn klarer.

Das gelbe Haus am Place Lamartine 2, in das er damals einzog und das er auf einem seiner Bilder festhielt, steht nicht mehr. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben es zerstört. Für zwei Monate hatte er dort Besuch vom Malerkollegen Paul Gauguin, dessen Zimmer er gelb gestrichen und mit Sonnenblumenbildern dekoriert hatte.

Das cremefarbene Nachbargebäude und die Platanen davor gibt es noch. Eine wetterfeste Reproduktion des Gemäldes dieser Gebäudegruppe von 1888 ist mittlerweile auf ein Gestell neben dem Fußweg montiert - am Van-Gogh-Pfad durch Arles. Es ist eines von mittlerweile neun solchen Motiven im Stadtzentrum. Diesen Morgen hockt ein junger Mann aus Italien mit Staffelei daneben, hält in der linken Hand eine Coladose, in der rechten einen Pinsel, und malt die Szene nach. Den Farbkasten balanciert er auf den Knien. An vielen Straßenecken sieht man heute Künstler die Perspektiven ihres Idols erkunden.

Der Mann, mit dem die Arlesianer einst nichts anfangen konnten, lockt heute Besucher aus aller Welt in das 50 000-Einwohner-Städtchen im Hinterland der Camargue und sorgt nebenbei für gute Geschäfte mit Sonnenblumenpostkarten und Souvenir-T-Shirts mit den Motiven seiner Werke auf Brust oder Rücken.

Mit seinen Bildern hat er Spuren gelegt - zu wenige für die vielen Van-Gogh-Pilger der Gegenwart. Und so legten die Arlesianer nach und nach weitere frei - oder schaffen sie erst: Das längst geschlossene "Cafe de la Nuit", in der Van-Gogh-Version eine der weltweit meistverkauften Poster-Reproduktionen, ist neu entstanden - in bester Lage am Place du Forum. Es ist ein Straßencafe geworden mit sattgelben Markisen, wallenden Baldachin-Stoffbahnen, kleinen Bistro-Tischen und besonders teuren Getränken. Durchaus ein Laden mit Atmosphäre, zugleich einer voller Touristen. Käme heute jemand vom Schlag Vincent van Goghs durch die Straße geschlendert, er würde sich über die Farben, über das knallige Gelb freuen und wahrscheinlich weitergehen müssen, weil wie immer kein Platz frei ist und Introvertiertheit ohnehin besser in eine der stilleren Seitengassen paßt.

Bis vor ein paar Jahren gab es an derselben Stelle nichts als ein Geschäft für Geschirr, ehe der Laden nach dem Vorbild des Van-Gogh-Gemäldes zum Cafe umgebaut und zur Goldgrube zurechtrenoviert wurde. Demnächst soll in den Räumen im ersten Stock dieses und der angrenzenden Gebäude ein kleines Hotel entstehen. Ein teures zudem, denn jedes Zimmer wird einem Gemälde des menschenscheuen Holländers nachempfunden. Das Haus wird aus dem Stand ausgebucht sein - ungeachtet aller Preise.

Van Gogh soll ein Sonderling gewesen sein, ein Trinker, ein unbeherrschter und zugleich vergeistigter Typ mit rotem Bart und Sommersprossen. Einer, der in Südfrankreich sofort auffiel und nicht leicht Anschluß fand. Einer, der gut Französisch, aber kein Provenzalisch sprach und ständig irgendwo seine Staffelei aufbaute, die Trinquetaille-Brücke über die Rhône in schnell auf die Leinwand gehuschten Streifen malte, das "Cafe de la Nuit", den Garten im Innenhof des Stadtkrankenhauses. Das alles in einem Stil, zu dem die Einheimischen keinen Zugang fanden. Heute sind die Arlesianer froh, daß der spleenige Mann, der sich hier eines Nachts ein Ohr abschnitt, ihrer Stadt ein Denkmal für die Ewigkeit gesetzt hat.

Zu Lebzeiten hat er nur ein einziges Bild verkauft. Nach seinem Tod änderte sich das schlagartig. 59,8 Millionen Euro brachte inzwischen sein Porträt des Dr. Gachet. Kein Van-Gogh-Original ist in Arles geblieben - nicht mal jenes, das sein Arzt einst geschenkt bekommen und zum Abdichten seines Hühnerstalls verwendet hat. Schlimm ist das nicht, denn die Stadt ist auch so untrennbar mit dem Werk des holländischen Impressionisten verbunden: Wo sonst kann man Gemälde erwandern, kann durch zeitlose Szenarien hindurchstapfen, die man aus Kunstbildbänden kennt, kann dasselbe Licht erleben, dieselben Farben sehen, die Düfte atmen wie van Gogh. Könnte man malen, hier würde man es tun. Kann man es nicht, ist Arles der richtige Ort, es dennoch zu versuchen. Eher als jeder andere.