Martinique: Charme der Karibik. Trotz wechselvoller Geschichte hat sich das Antillen-Eiland mit den vielfarbigen Sandstränden seine Heiterkeit bewahrt.

Der Sonntag ist auf Martinique der Tag der Rituale, vom Kirchgang am Morgen bis zum Besuch der Kampfarena am Nachmittag. Mit den wichtigen Mienen von Männern, die im Begriff sind, die Zivilisation voranzubringen, sammeln die Besitzer der Hähne im "Pitt Clery" in Rivière-Pilote Geldscheine ein, die sie umständlich einmal und noch einmal zählen, bevor sie sie in ihre Hosentaschen stopfen. Dann betupfen sie die Hähne mit Äther, bringen sie mit ein wenig Rum in Stimmung, befestigen Kampfsporen an ihren Beinen. Fast liebevoll treffen sie diese Vorbereitungen. Hier geht es nicht nur um lukrative Wetten, sondern auch um kostbare Tiere. Jeder Hahn ist mindestens 300 Euro wert. Schließlich beginnt der Kampf - unter wachsamen Blicken der Besitzer und den Anfeuerungsrufen derjeniger, die auf einen der Kontrahenten gesetzt haben. Die Tiere hacken mit den Schnäbeln, schlagen mit Flügeln und verknäulen sich ineinander.

Mancher Zuschauer braucht zu diesem Zeitpunkt dringend einen "ti-punch". Dieses kreolische Kosewort bezeichnet den "petit punch" aus weißem Rum, braunem Zucker und frischer Limone. Nicht nur bei unruhigen Gelegenheiten wie dem Hahnenkampf gehört der Cocktail zu den sinnstiftenden Alltagsritualen auf der Karibikinsel. Das Mischverhältnis ist individuelle Erfahrungssache, und so reicht man in Restaurants, Bars und auch an der Holztheke im "Pitt Clery" dem Gast gleich die ganze Flasche - im Vertrauen darauf, daß er selbst wissen möge, was für ihn gut ist.

"Der letzte Tag im irdischen Paradies" ist ein Bild im Ausstellungsraum der Rum-Destillerie "Habitation Clement" betitelt. Es zeigt eine präkolumbische Antillen-Idylle edler Wilder. Auf seiner vierten und letzten Amerika-Reise ging Kolumbus im Jahr 1502 auf Martinique an Land und wälzte damit auch hier ganze Welten um. Seitdem ging es hoch her: Die europäischen Siedler brachten den Ureinwohnern Alkohol, Krankheit und Tod, plagten sich ihrerseits über die Jahrhunderte mit Wirbelstürmen, Erdbeben und Kriegen um Zucker, Tabak, Kaffee und andere Reichtümer der karibischen Inseln. Immer wieder bauten zu Wohlstand gekommene Zuckerpflanzer auf den Trümmern älterer Ansiedlungen neue Luftschlösser - meist hielten sie nur bis zum nächsten Hurrikan.

Vor über 100 Jahren - Martinique war nach einem englischen Intermezzo Ende des 18. Jahrhunderts in französischer Hand, die Hauptstadt Saint-Pierre eine als "Paris der Antillen" gefeierte Hochburg niveauvollen Amüsements - schlug die Natur besonders scharf zu. Nach wochenlanger Unruhe explodierte am 8. Mai 1902 die Kuppe des Mont Pelee und begrub in Sekundenschnelle alles Leben in der Stadt unter einer vernichtenden Wolke aus Feuer, Giftgas und glühender Asche. Knapp 30 000 Menschen waren auf der Stelle tot, als einziger überlebte der Gefangene Louis Cyparis. Am 30. August 1902 zerstörte eine weitere Glutwolke auch Morne-Rouge und tötete abermals mehr als 1000 Menschen.

Bis heute erinnern das Verlies und die schwärzlichen Grundmauern des einst glanzvollen Theaters von Saint-Pierre an das Unglück. Das Städtchen wurde zwar wieder aufgebaut, doch die Musik spielte fortan in der heutigen Hauptstadt Fort-de-France im sicheren Süden. Der Vulkan wird noch immer scharf beobachtet. Doch bildet der sorglose Fahrstil der Martiniquais derzeit wohl eher das größte Gefahrenpotential auf der Insel.

Trotz oder vielleicht auch wegen seiner wechselvollen Geschichte erinnert Martinique wieder an ein irdisches Paradies: Das Leben kann leicht wie eine Sommerbrise sein, und es braucht dazu wenig mehr als ein Glas Rum-Punsch und einen netten Platz im Schatten. Höchstens noch einen der weißen Strände, die nur sonntags voll sind und im Norden der Insel selbst dann so verlassen liegen, daß man die Geschichte von Robinson neu erfinden möchte. In kleinen Dörfern brennt die Sonne auf Straßen, wo nur wenig passiert. Ein paar Leute spielen an Klapptischen Domino. Einige sitzen auf der Terrasse einer Bar und plaudern. Andere schlendern unter Sonnenschirmen zur Markthalle.

Nicht umsonst verbrachte der Paradiessucher Paul Gauguin 1887 fünf Monate auf der Antillen-Insel, die der Nachwelt zwölf Gemälde bescherten. Anders als das mondänere französische Übersee-Departement Guadeloupe hat Martinique seinen kontemplativen Charme bewahrt. Die touristische Infrastruktur konzentriert sich entlang der südwestlichen Küste von Pointe du Bout bis zum Yachthafen von Le Marin, überall sonst ist abgesehen von Fort-de-France vom Tourismus wenig zu spüren.

Angesichts der Autowracks an Straßenrändern, die von der Vegetation in kurzer Zeit regelrecht verschlungen werden, erscheint es erstaunlich, daß viele Zuckermühlen und Plantagen aus Kolonialtagen zumindest noch erkennbar sind. Einige Ruinen werden allerdings liebevoller gepflegt als andere, wie beispielsweise das Elternhaus der ersten Frau Napoleons, der Kaiserin Josephine von Frankreich, das heute zum touristischen Pflichtprogramm auf Martinique gehört. Übrigens war es Napoleon, der die Sklaverei 1802 auf Martinique und Guadeloupe wieder einführte.

Heutzutage ist das Leben auf der Insel vorwiegend heiter, und am süßesten ist es an der Grande Anse des Salines. Der hinter Salzlagunen gelegene südlichste Strand der Insel soll die meisten Sonnenstunden bieten. Palmen biegen sich bis zum weißen Sand hinunter. Das türkis leuchtende Meer plätschert wohlig warm an den Strand. Im Palmenhain dahinter reihen sich Bars aneinander, auf deren Grillrosten zur Mittagszeit Tropenfische garen, aus Lautsprechern tönt der ortsübliche Zouk. Hier sitzen nicht nur Touristen im Schatten. Martinique ist eine Insel, an der auch die Einheimischen ihre Freude haben.

Schick und trubelig sind viele Strände, aber auch einsam und wild, manche sind puderzuckerweiß, andere lava-schwarz. Und entlang der Atlantikküste hinter Kuhweiden und Feldern finden sich Strandabschnitte, an denen die Wellen dunkelsamtblau an einsame Ufer schäumen. Keine Menschenseele weit und breit.

Im "Pitt Clery" von Rivière-Pilote haben die Zuschauer die Kampfarena verlassen und sind weitergezogen. Der Schiedsrichter hat die verletzten Verlierer ausgezählt. Draußen versammeln sich die Besucher nun um einen Maschendrahtkäfig, Austragungsort eines weiteren traditionellen Nervenkitzels: des Kampfes zwischen Mungo und Lanzenotter, einer Giftschlange, die einst ausgesetzt wurde, um Sklaven an der Flucht zu hindern. Auf dieses Spektakel setzt niemand Geld. Denn fast immer gewinnt der schnelle Mungo. Heute scheinen sich beide auf eine friedliche Koexistenz verständigen zu wollen und müssen erst mit einem Stock aufeinander gehetzt werden. Ein kurzes Zischen und Zappeln, dann trennt der Besitzer die beiden. Die blutende Schlange zeigt er umher. Die Menge zerstreut sich. Es ist Zeit für "ti-punch" am Palmenstrand.