Hier treffen sich die Könner unter den Snowboardern und Skifahrern, um aus über 3000 Meter Höhe “Die Königin“ zu umkurven.

Musik ist einfach Bills Ding. Rock, Blues, Folk; die guten alten Sachen eben. "Music", sagt Bill Odett aus Vermont, Alaska, bedächtig, "must be original" - pur, echt, unverfälscht; Hauptsache hand-made. Deswegen steht Bill auch auf La Grave, einem kleinen französischen Bergdorf, etwa zwei Autostunden von Grenoble entfernt, gelegen zwischen den bekannten französischen Skistationen Briançon und L'Alpe d'Huez. Denn hier oben, auf 1450 Metern Höhe, macht der Schnee die Musik. Hier walzt keine Schneeraupe Abfahrten platt und nirgendwo stehen Skikursgruppen im Weg herum.

"Wir kopieren keine anderen Skiorte, wir sind anders. Wir bieten Gebirgsski", erläutert Bertrand, der für das Tourismusbüro arbeitet. Deswegen gilt La Grave als Treff für Variantenfahrer oder neudeutsch: Freerider.

Kurz vor neun Uhr stehen wir mit Peter, unserem Bergführer, an der einzigen Seilbahn des Skigebiets. Die Sechs-Personen-Gondel, erbaut in den 70er-Jahren, schaukelt gemächlich maximal 450 Menschen pro Stunde von 1450 auf 3200 Meter. Die letzten 350 Höhenmeter zum Gletscher Dome de Lauze hinauf geht's mit zwei Schleppliften, dann genießen wir bei strahlender Sonne den grandiosen Rundblick auf ein außergewöhnliches Skigelände.

Bill aus Alaska hat hier sein Glück gefunden und La Grave zu seinem zweiten Zuhause gemacht. Er ist seit gut 30 Jahren ein "Skibum", also ein Schneeverrückter. Seit 19 Jahren kommt er im Januar nach La Grave, bleibt bis Ende April und fährt Ski sowie Snowboard. Zudem lädt Bill an vielen Abenden zu Musik-Sessions in sein Ein-Zimmer-Apartment ein. Bill zählt zu den besten Kennern dieses außergewöhnlichen Skigeländes. "Du kannst in steilen Couloirs den Nervenkitzel suchen, in lange Pulverfelder eintauchen, auf breiten Abfahrten locker carven oder zwischen Lärchen herumhüpfen", erzählt uns der Urbum von La Grave. Und philosophiert weiter: "Dieser Berg ist so verdammt vielseitig. Er ist steil, oft ist er wild und manchmal ist er ganz sanft. Du musst ihn einfach lieben."

Das Steile und Wilde offenbart uns dann auch Peter, der seit über zehn Jahren Reisen nach La Grave anbietet. Er hat dafür eine Variante ins drei Kilometer entfernte Freaux ausgewählt: eine Abfahrt mit 2100 Meter Höhendifferenz. Doch schon beim Einstieg ins Couloir Freaux stockt uns der Atem: 40 Grad steil, dazu auf den ersten 50 Metern der insgesamt fast 900 Höhenmeter langen Rinne nur knapp vier Meter Spielraum zwischen den Felsen. Zwar ist das skifahrerische Niveau der Gruppe hoch, aber hier müssen wir uns doch zunächst im Treppenschritt hinunterkämpfen. Erst als sich die Rinne seitlich verbreitet, gelingt es Gerhard, einem schwäbischen Druckereibesitzer, die ersten superkurzen Schwünge in den Schnee zu zirkeln. Mehr ein Umspringen mit sofortigem Stopp. Denn jeder Sturz könnte auch noch in diesem Abschnitt lebensgefährlich werden. Im Ausläufer der Rinne erwartet uns ein Spezial-Slalom durch den dichten Lärchenwald, mal links, dann wieder rechts um die Bäume herum.

Völlig ausgepumpt, aber wohlbehalten kommen alle im Dorf Freaux an. Nun ist klar: Nicht der Mensch gibt hier den Weg vor, einzig der Berg bestimmt, wo es lang geht. Ansonsten reglementiert niemand in La Grave die Skifahrer - es gibt keine Verbote oder Vorschriften. "Wir informieren zwar täglich über Lawinenwarnstufen und Bedingungen im Gelände, zudem bieten wir wöchentlich kostenlose Übungen mit Lawinensuchgeräten an. Wir setzen aber auf Eigenverantwortung und fahren mit dieser Politik sehr gut", erklärt Bertrand. Freie Hänge für freie Skifahrer. Diese Gleichung gilt in erster Linie für Könner. Aber: Selbst durchschnittliche Skifahrer und Snowboarder profitieren von diesem Berg, denn nach einer Woche bewältigt fast jeder die leichteren Varianten vom Vallon de la Meije. Und stellt fest, dass das eigene Können enorm gestiegen ist. Anfänger hingegen fahren ins knapp sechs Kilometer entfernte Chazelet, ein kleines, sonniges Skigebiet mit Sessellift und vier Schleppern. Ideal für Familien.

Über einen weiteren Vorzug klärt uns Patiss, ein lokaler Heroe im Snowboarden, auf: "Wenn es hier schneit, kannst du zwei bis drei Tage frische Spuren in den Pulverschnee ziehen. Es ist nicht wie zum Beispiel in Chamonix in zwei Stunden alles durchgepflügt. In La Grave sind viel weniger Leute, und alle sind freundlich." Dies gefällt auch dem früheren Formel-1-Weltmeister Jacques Villeneuve aus Kanada, der zu den eingefleischten La-Grave-Fans zählt. Dorf und Einwohner strahlen zudem viel Ruhe aus. Wer tagsüber über die Hauptstraße schlendert, im Cafe verweilt oder sich in der "Fromagerie de la Montagne" mit örtlichen Käse- und Wurstspezialitäten eindeckt, spürt die wohltuende Harmonie und gewinnt die Gelassenheit der Menschen hier lieb.

Am Schlusstag serviert Peter ein Bonbon. Vom Gletscher Dome de Lauze schwingen wir völlig entspannt auf breiten, flachen Hängen hinab, dann wird es steiler und schmaler. Abrupt endet die Abfahrt: nur noch Felswände, der nächste Hang gut 20 Meter unter uns. Bleibt eine einzige Möglichkeit: abseilen. Peter hat bereits am Morgen jeden Einzelnen mit Klettergurt und Haken präpariert. Die Skier werden auf die Rucksäcke geschnallt. Peter befestigt das Seil an meinen Haken und lässt mich nach Christina, einer erfahrene Bergsteigerin, den Felsen hinunter. Ich rutsche mit meinen Skischuhen an den glatten Steinen ab und hänge am Seil wie ein zappelnder Fisch an der Angel. Irgendwie passend für einen Hamburger, denke ich. Aber bereits beim zweiten Abseilen bewältige ich die fast 30 Meter zwischen den Felsen recht ordentlich. Zur Belohnung darf ich in der 500 Höhenmeter langen Rinne hinabschwingen, schön respektvoll und langsam.

"Die Kombination Skifahren plus Abseilen ist eine Spezialität von La Grave", erklärt Stefan Neuhauser, ein deutscher Bergführer, der seit einigen Jahren unweit von La Grave lebt. Neuhauser doziert weiter: "Den Gletscher darf man nicht ohne Bergführer überqueren. Und wer sich in diesem weiten, riesigen Gelände nicht richtig auskennt, sollte niemals irgendwelchen Spuren folgen."

Ganz klar: Neuankömmlinge sollten dieses wilde, endlos weite Skigelände mit seinen unzähligen Varianten nicht ohne Guide erkunden. Und wer Experten-Tipps möchte, begibt sich zum Après-Ski einfach an die Bar des Hotels "Castillan" oder schaut im Cafe "Les Glacier" vorbei. Viele Bergführer sowie La-Grave-Insider trinken hier ihr Bier - und geben dabei gerne Empfehlungen für reizvolle Routen.