Bretagne: Belle-ÎLe-En-Mer lockt mit ihrem Charme vor allem junge Leute an. Die bretonische Insel ist hip, jugendlich, fröhlich, herzlich - und sie erinnert ein wenig an die Karibik.

Jacques Jean aus Vannes verzerrt den Altersschnitt der Saisonkräfte und paßt trotzdem exakt ins Bild. Seit kurzem ist er pensioniert, und selbst als er noch als Sportlehrer an der Polizeischule drüben auf dem Festland aktiv war, hat er seinen Jahresurlaub regelmäßig auf der bretonischen Belle-Île-en-Mer verbracht: hinter Frankreichs wahrscheinlich coolster Sonnenbrille, unter einer Baseball-Kappe, in einem zu engen weißen T-Shirt, auf einem Klappstuhl im Dünensand von Plage des Grands Sables. Vier Wochen lang ist Jacques Jean jedes Jahr gemeinsam mit ein paar Kollegen als ehrenamtlicher Rettungsschwimmer am beliebtesten Strand der Insel aktiv. Ein paar Dutzend Einsätze sind es jeden Sommer, 120 Patrouillenfahrten mit dem motorbetriebenen Dienst-Schlauchboot: vermißte Kinder wiederfinden, in unterschiedliche Richtungen davongeschwommene Paare zusammenführen, hilflose Surf-Anfänger mit Fehlkurs aus den Fängen einzelner Böen befreien.

Im Wohnwagen neben dem Klappstuhl-Ausguck liegt das Ringbuch mit den Rapporten der Vorjahre - alles gutgegangen. Jacques Jean ist der gute Engel des Strandes. Ihm ertrinkt so schnell keiner. Alles andere wäre nicht nur schrecklich, sondern ginge auch gegen die Berufsehre - und paßte obendrein nicht ins Bild der unbeschwerten Ferienleichtigkeit, der bunten Segel im Sand vor der Surfschule, der in fröhlichen Farben lackierten Katamarane, der Wir-sind-alle-Freunde-Strandstimmung.

Dumm aber, wenn sich jemand vormittags verschwimmen sollte: Die Wache ist nur von ein Uhr mittags bis sieben Uhr abends besetzt. Warum? Weil die milden Nächte lang sind, manchmal noch um zwei Uhr morgens auf den Terrassen der Bars getanzt wird und deswegen vormittags wenig an den Stränden los ist.

Um die viereinhalbtausend Einwohner hat Belle-Île, die meisten leben in der Inselhauptstadt Le Palais. In der Saison kommen bis zu 35 000 Feriengäste und Tagesbesucher hinzu, die morgens von den Decks der im Juli und August stets ausgebuchten Fähren strömen, die Straßencafes am Hafen und am Place de la Republique bevölkern - und sich dann so gleichmäßig über die Insel verteilen, daß von dem Riesen-Andrang außerhalb von Le Palais kaum etwas zu spüren ist.

Belle-Île-en-Mer ist mit rund 84 Quadratkilometern die größte der bretonischen Inseln. An ihrer längsten Stelle bringt sie es auf 18, an der breitesten auf knapp neun Kilometer. Keine einzige Ampel ist auf der Insel nötig - nicht für Fußgänger, nicht für Autos.

Für ein paar Wochen von Anfang Juli bis Anfang September, scheint es, ist die Insel Mittelpunkt der Welt und vor allem von jungen Leuten bevölkert: Sie kommen in Scharen, und mit jedem neuen Sonnenaufgang werden es noch mehr. Die Insel ist hip, ist jugendlich, studentisch, fröhlich, entspannt, herzlich, sie ist voller Fahrräder, Picknick-Decken, Strandtücher und voller Musik. Es gibt Jongleure auf dem Zeltplatz bei der Zitadelle von Le Palais, Gitarrenspieler an den Stränden, Akkordeonklänge spätabends am Hafen, dazu über 1000 Saisonkräfte in Bars, Restaurants, Hotels und Eisdielen, von denen kaum jemand älter als 25 ist. Und keiner der Musiker spielt für das Geld der anderen, sondern jeder zaubert die Töne einfach so herbei - für sich und für alle, die Lust darauf haben. Belle-Île hat einen eigenen Swing, ein sommerliches Lebensgefühl, das mitreißt und für ein paar Wochen keine Stürme, keine tosenden Gewalten kennt.

Selbst an der im Herbst und Winter besonders wilden Westküste tuckern Ausflugsboote in größtem Frieden auf sanfter See entlang, ankern Yachten über Nacht zwischen den Klippen, räkeln sich die Passagiere an den manchmal nur vom Meer aus zugänglichen Stränden kleiner Badebuchten. Und niemand mag glauben, daß der Ozean im Winter tonnenschwere Brocken aus dieser Steilküstenkulisse bricht und mit ihnen Wasserball spielt.

1886 war die Insel das Ende der Welt: abgelegen, schwer zu erreichen, noch fern vo dem Flair südfranzösischer Sommerfrische. Und wahrscheinlich lockte sie damals genau deshalb die Künstler an: Claude Monet war zweieinhalb Monate hier, malte 39 Bilder der wilden Côte Sauvage, wohnte in einem kleinen Häuschen in Kervilahouen - und beklagte sich über die Ratten, die durch den Flur sausten. Heute ist das Häuschen am Place Claude Monet Ecke Rue Platon rosa gestrichen, hat rote Fensterläden, keine Klingel, einen kleinen, uneinsehbaren Garten, und die Ratten sind weg. Inzwischen wird es als Ferienhaus vermietet. "Oui, oui, oui", sagt die Frau, die es gerade für acht Tage bewohnt, es sei das erste Mal, daß sie am Tisch von Monet ihr Croissant esse und in seinem Bett schliefe: Noch schöner wäre es nur, hätte Picasso hier gewohnt. "Den mag ich lieber." Sie lächelt verlegen.

Die meisten Urlauber auf der Belle-Île wohnen so: in kleinen Häuschen irgendwo auf der Insel. Die Gebäude verteilen sich, als hätte ein Riese sie wie Saatgut aus der Hand in die Gegend gestreut. Die meisten sind weiß, manche in Pastelltönen gehalten. Die Insel ist heiter, übersichtlich und, von den Nebensaison-Stürmen abgesehen, klimabegünstigt. Sogar Palmen wachsen in den Gärten. Die stattlichsten wie die vor der Kirche von Locmaria bringen es auf bis zu sieben Meter Höhe. Schnee fällt einmal in zehn Jahren, Bodenfrost gibt es nie, und die Geranien bleiben auch im Winter draußen.

Mittwochs und donnerstags ist Jacques Jean drei Stunden eher im Dienst: Dann ist Sportkurs hinter dem Rettungsschwimmer-Wohnwagen - wie damals an der Polizeischule. "Aber freiwillig", sagt er. Kein Zwang. Ein paar selbstgemachte Plakate hat er geklebt, keine große Werbung gemacht. Eine Handvoll Fans ist jedes Mal dabei. Und allen, die regelmäßig mitmachen, dürfte es recht bald zu eng im eigenen T-Shirt werden.

Stimmt es, daß die Rettungsschwimmer ganz nebenbei die Flirt-Könige des Strandes sind? Jacques Jean lacht, spricht das längste "Ouuuuuuuuiiiiiii", das man sich denken kann, und nimmt dafür sogar die Sonnenbrille ab: "Die Jungen haben viel Erfolg damit." Er macht eine Kunstpause. Jetzt lacht sein vielleicht 22jähriger Kollege und klopft ihm anerkennend auf die Schulter: "Aber die Alten auch!"