Ostanatolien: Zwischen dem Vansee und dem Berg Ararat warten grandiose Landschaften und antike Bauten auf Bewunderer

Der Flug nach Antalya war nur ein Katzensprung. Doch dann liegen mehrere Tausend Straßenkilometer vor uns: Ostanatolien. Wir wollen das "Land des Sonnenaufgangs" per Mietwagen erfahren, trotz mancher Unkenrufe. Über die Mittelmeerroute kommen wir aus heiteren Küstenlandschaften in herbere Gefilde. Zwischen den großen Städten verkehren komfortable Fernbusse, die Fahrer tragen Krawatten - was sie freilich nicht daran hindert, schneller, aggressiver zu fahren als andere Wagenlenker. "Die Busfahrpläne gestatten keine Bummelei", sagt John, Lehrer an der Amerikanischen Schule in Istanbul. Er ist in die Industriestadt Gaziantep geflogen, um mit einem Mietwagen Stätten christlicher Minderheiten in Südanatolien zu erkunden.

Wir bewegen uns in einem von Touristen jahrelang gemiedenen Konfliktgebiet. Darauf deuten wiederholte Kontrollen des Militärs und der paramilitärischen Gendarmerie hin. Ausländische Reisende werden nach kurzem Sichtkontakt oder Vorzeigen des Passes durchgewinkt. In Ostanatolien grenzt die Türkei an fünf Nachbarstaaten, lebt der größte Teil des in vier Ländern beheimateten Kurdenvolkes. Seit der inhaftierte PKK-Führer Öçalan seine Anhänger zum Verzicht auf Gewalt aufrief, kommen wieder Besucher in diese Gegend. Ein gewisses Restrisiko könne nicht ausgeschlossen werden, warnt das Auswärtige Amt in Berlin. Landeskenner wie John meinen, dass die Gefahren für Touristen heute eher im Straßenverkehr und in Erdbebenzonen liegen.

Beim Halt an einer Aussichtstelle der Passstraße zwischen dem Vansee und dem Berg Ararat, inmitten verschneiter Lavafelder des 3541 Meter hohen Vulkans Tendürek, erleben wir mulmige Sekunden: Ein Wagen mit zwei stoppelbärtigen Insassen hält abrupt neben uns. Überfall im "wilden Kurdistan"? Der Schreck löst sich rasch in Wohlgefallen auf: Die beiden Türken wollen nur wissen, ob unser Wagen defekt ist, ob wir Hilfe brauchen - und brausen weiter.

Es sind die grandiosen Horizonte, die vielfältigen Landschaftsformen, die uns fesseln. Ostanatolien ist ein Land mit extremen Klimaunterschieden, mit schier endlosen Straßen zwischen eisbedeckten Gebirgszügen, dünn besiedelten, von Wind und Staub gepeinigten Hochplateaus, mit einem Himmel, der von grellem, unbarmherzigem Sonnenlicht zu gewaltigen, unheilschwangeren Wolkenbildungen wechselt. Immer wieder sehen wir fasziniert dem Wechselspiel des Lichts und der Farben zu.

Über die kargen Felder ziehen Hammel- und Ziegenherden, die Hirten sind in schwere Woll- und Fellgewänder gehüllt, wilde Hirtenhunde springen den Wagen an und balgen sich mit streunenden Artgenossen. Wir sind auf Spurensuche nach archäologischen Stätten im fernen Osten Anatoliens, rund zweitausend Kilometer von Antalya, Izmir und Istanbul entfernt. Auf dem höchsten, stark vergletscherten Berg der Türkei - er ist einige Hundert Meter höher als der Mont Blanc - wird der Landeplatz von Noahs Arche vermutet. Der Aufstieg zum Berg Ararat war zeitweilig verboten. Aus Spionageangst ist nach wie vor Fotografieren im Dreiländereck eingeschränkt. Oft hüllt sich der majestätische Bergriese mit zwei Vulkangipfeln in Wolken.

Bei Dogubayazit geraten wir von der holprigen Höhenstraße in den Lastwagenverkehr der E80. In den schlichten Motels und "Otelis" des Grenzstädtchens gibt sich buntscheckiges Reisevollk ein Stelldichein - Fernfahrer aus West- und Osteuropa, blondierte, als "Nataschas" apostrophierte leichte Mädchen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion, expeditionsartig ausgerüstete Gruppen auf der Suche nach der biblischen Arche. Wenige Kilometer hinter dem Ort erhebt sich vor einer wildromantischen Bergkulisse Ishak Pasa Sarayi, die Palastburg eines Kurdenhäuptlings aus dem 17. Jahrhundert, ein fantastisches Bauwerk verschiedener Stilarten, so etwas wie ein "türkisches Neuschwanstein". Wie ein halbes Dutzend anderer, auf Postkarten millionenfach abgebildeter Sehenswürdigkeiten der Türkei ist das aus Zolleinnahmen entstandene Märchengebilde von magischer Anziehungskraft.

Hosab Kale, eine andere Kurdenburg im Grenzgebiet, wartet noch darauf, zum Touristenmagnet zu werden. Bizarr thront sie auf einem Steilfelsen über dem Kurdendorf Güzelsu an der Gebirgsstraße nach Hakkari, umgeben von schwefelgelben Karstbergen. Die Festungen in den kurdischen Siedlungsgebieten stehen vielfach auf Verteidigungsanlagen der Urartäer, die um 750 vor Christus zwischen Mittelmeer und Kaspischem Meer ein Großreich schufen - und Assyrer, Skythen und Meder zu Feinden hatten. Aus hellem Kalkstein und schwarzen Basaltquadern errichteten sie Stadtmauern, Fürstenpaläste, Tempel, Getreidespeicher, Aquädukte - zu besichtigen auf dem Ruinenhügel der freigelegten Königsresidenz Cavustepe und auf dem langgestreckten Burgberg der heutigen Provinzhauptstadt Van.

Der Vanseebereich war bis Anfang 2001 touristisches Sperrgebiet, auch die Klosterinsel Akdamar. Das Gebirge am Südufer galt lange als Rückzugsgebiet kurdischer Rebellen. Der See ist achtmal größer als der Bodensee. Noch im Sommer liegt Neuschnee auf der 2235 Meter hohen Passstraße. Es gibt einige Ferienkolonien am Seeufer, aber die Wassertemperaturen vermögen nur Bärennaturen zu erfreuen. Eher eignen sich die warmen Quellen des nahe gelegenen Vulkans Nemrut Dagi zum Baden.

Auf der kleinen Insel Akdamar wartet ein architektonisches Wunder. Kurdische Bootsleute aus Gevas fahren Besucher hinüber zur Kirche des Heiligen Kreuzes, einem von armenischen Christen hinterlassenen Juwel. Die Armenier waren wahrscheinlich im 6. Jahrhundert vor Christus aus Babylonien in das vorderasiatische Hochland eingewandert. Angeleitet von Gregor dem Erleuchter hatten sie im Jahr 301 als erstes Staatsvolk der Antike, noch früher als die Römer, das Christentum angenommen. Die Ausschmückung mit biblischen Reliefbildern und Heligenfresken ist nirgendwo so ausgeprägt wie auf Akdamar. Von dem einstigen Kloster- und Palastkomplex aus der Zeit um 920 ist nur noch die Heiligkreuzkirche erhalten. Der muslimische Bildersturm hat sie weitgehend verschont - mit überaus plastischen Darstellungen von Adam und Eva, David und Goliath, Abraham und Isaak, Daniel in der Löwengrube und Jonas im Rachen des Wals.

Von Touristen weniger besucht wird Malazgirt, ein Wallfahrtsort nationalbewusster Türken, die "Wiege der Türkei". In der Schlacht von Malazgirt besiegte 1071 der Seldschukische Fürst Alp Arslan den byzantinischen Kaiser Romanos Diogenes und öffnete islamisierten Turkstämmen den Weg in den Westen, auch aus Zentralasien nachdrängenden Reiterheeren eines Haudegens namens Osman. Als Gründer des Osmanischen Weltreichs ging er in die Geschichte ein.

Sehenswert ist Ani, die einstige Hauptstadt des Königreichs Armenien. Sie sieht sich heute in eine extreme Grenzlage versetzt. Verschiedene Formalitäten sind zu erledigen, bevor die Ruinenstadt angesteuert werden kann. Sie liegt auf einem dreieckigen Plateau, das von zwei Flüssen und einer gewaltigen Stadtmauer begrenzt wird. Auf dem Areal sollen in der Blütezeit Anis angeblich hunderttausend Menschen gelebt und tausend Kirchen gestanden haben. Von den Bauwerken aus dem 9. bis 12. Jahrhundert ist jetzt nur noch ein Bruchteil zu sehen. Dennoch empfinden wir Ani als ein Kulturwunder: Wie konnte sich in der unwirtlichen Umgebung so viel Glaubenskraft, Gestaltungswillen, Schönheitssinn entfalten?

Neben Armeniern hatten sich auch Georgier im Nordosten Anatoliens niedergelassen. Georgien, das oft das Schicksal Armeniens teilte, war 330 zum Christentum übergetreten und immer wieder von Invasoren heimgesucht worden. Im Jahr 607 hatte sich das kleine Königreich im Kaukasus von der armenischen Kirche getrennt und den byzantinisch-orthodoxen Glauben angenommen. Georgische Mönche gründeten Klöster im Bereich der Ostkirche, auch in Ani und auf dem griechischem Berg Athos. Bis zum Mongolensturm genoss Georgien unter König David und Königin Tamara weitgehend Selbstständigkeit, blühten Kirchenarchitektur, Literatur und Malerei.

Damals gehörte auch das Hochgebirge zwischen Erzurum und dem Schwarzen Meer zum Königreich Georgien. Es ist ein Landstrich von ungewöhnlicher Schönheit, großartig wie die nordamerikanischen Canyonlandschaften, im Nordteil dem Schwarzwald ähnlich - ein Paradies für Fußwanderer und Wildwasserfahrer. Versteckt in den "Georgischen Tälern", vielfach hoch im Gebirge, haben die Georgier mittelalterliche Klöster und Kirchen hinterlassen, Bauwerke mit armenischen Charakteristiken, jedoch feiner gestaltet, anmutiger, weniger streng. Es ist nicht ganz abwegig, von einem "türkischen Athos" zu sprechen, auch wenn die Einheimischen dem christlichen Kulturkreis fremd gegenüberstehen. Viele von ihnen sind arm und Analphabeten, manches Bergdorf wurde von den Bewohnern verlassen. Doch aus dem Koran wissen sie besser als viele Arrivierte, dass dem Reisenden, dem "Sohn des Weges", Gastfreundschaft gebührt. Wir haben sie auf dieser Reise wieder reichlich erlebt.