Türkei: Der schönste Fernroutenweg des Landes. Grüne Hügel, wilde Steilküsten, einsame Buchten. Und immer wieder gibt es antike Stätten zu erkunden.

Mit den Hähnen als Hintergrundchor weckt uns der Muezzin in aller Herrgottsfrühe. Eindringlich hallt das Echo seines Rufes zum Morgengebet von den steilen Bergen hinter dem Dorf zurück. Wir sind unterwegs auf dem Lykischen Weg, dem ersten markierten Fernwanderweg in der Türkei. Dieser führt auf alten Dorfverbindungspfaden von Fethiye nach Antalya und eröffnet immer wieder weite Ausblicke auf die zerklüftete Mittelmeerküste. In sieben Tagen erwandern wir ausgewählte Teilstücke der insgesamt mehr als 500 Kilometer langen Strecke.

Schon kurz nach dem Start in Fethiye lassen wir den Alltagstrubel hinter uns. Parallel zur felsigen Küste geht es gemächlich, aber stetig bergan. Vorneweg läuft unser Bergführer Kemal. Anfangs führt der Weg noch durch einen schattenspendenden Kiefernwald, der sich bald lichtet und mit zunehmender Höhe mittelmeertypischer Maccia weicht. Zwischen diesen immergrünen Hartlaubgewächsen zwitschern fröhlich die Finken und läuten die Glocken unsichtbarer Ziegen.

Als wir am Nachmittag in Faralya ankommen, haben sich dichte Wolken auf die Spitzen der Berge gelegt. Viel los ist in dem Ort nicht. Eine junge Frau führt zwei Ziegen gemächlich zu ausgewählten Futterstellen neben der Straße, ein paar alte Männer auf Plastikstühlen spielen Taula.

Nach Sonnenuntergang wird es auf der Terrasse der kleinen Dorfpension empfindlich kühl. Die Gastgeber laden die Wanderer zum Aufwärmen ins private Wohnzimmer ein. Bergführer Kemal ermahnt uns diskret, vor der Tür die Schuhe auszuziehen, dann nehmen wir auf dem blümchengemusterten Sofa Platz. Die Tochter des Hauses träufelt jedem Besucher zur Erfrischung ein wenig Kölnisch Wasser in die Hände und kocht Tee für alle. Ein Holzofen wärmt das Zimmer, das von einer nackten Neonröhre ausgeleuchtet wird und an dessen Wänden grellfarbene Zierteppiche mit Pfauen- und Bärenmotiven hängen. Unumstrittener Mittelpunkt des Raumes ist ein großer Satellitenfernseher deutschen Fabrikats. Zu sehen sind Seifenopern heimischer Machart, zwischen denen der Vater und die Tochter alle paar Minuten hin- und herschalten. Geduldig übersetzt Kemal die Konversationsversuche, die beide Seiten etwas schüchtern unternehmen.

Am folgenden Tag laufen wir auf einer einsamen Schotterstraße weiter bis in das nächste Dörfchen Kabak. Von dort aus steigen wir das erste Mal hinab bis ans Meer, in eine menschenleere Kieselsteinbucht. Gelegenheit für ein Erfrischungsbad, bevor der nächste anstrengende Aufstieg folgt. Jeder versucht seinen persönlichen Gehrhythmus zu finden. Der Pfad führt über steile Geröllfelder und rutschige Wurzeln, unter Felsüberhängen und umgeknickten Kiefern hindurch. Trotz des schattenspendenden Waldes rinnt der Schweiß in Strömen die Stirn hinab. In einem verlassenen Olivenhain machen wir Mittagspause: Es gibt Weißbrot, Schafskäse, Tomaten, Gurken, ein paar Salatblätter - und köstliches frisches Wasser, das wir zuvor an einer der Quellen am Wegesrand gezapft haben.

Einen auffälligen Gegensatz zu den armen Dörfern von heute bilden die antiken Städte der Lykier. Mehrere davon liegen an unserem Weg, beispielsweise Xanthos, Patara, Myra und Olympus. Die teilweise gut erhaltenen monumentalen Amphitheater, schmuckvollen Grabstätten und vielseitig verzierten steinernen Ornamente lassen auch 2000 Jahre nach dem Untergang des lykischen Volkes dessen Reichtum erahnen. Nach aufopferungsvoller Gegenwehr wurde Lykien 43 nach Christus als letzter Landstrich Kleinasiens in das Römische Reich eingegliedert. Sehr viel weiß man über die Lykier nicht, die in der etwa 1000jährigen Geschichte ihrer Existenz eine eigenständige Kultur entwickelten. Auf Steintafeln haben sie schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Die Geheimnisse dieser Inschriften zu entziffern ist bis heute noch nicht gelungen.

Ähnlich begeistert wie wir waren die Lykier wahrscheinlich auch vom Strand von Patara, der nur wenige Gehminuten von der gleichnamigen antiken Ruinenstadt entfernt liegt. Mit mehr als zehn Kilometern Länge ist er einer der längsten Sandstrände in der Türkei. Von den riesigen Dünen aus verabschieden wir am Abend die Sonne, die am Horizont rot glühend im Meer versinkt.

Nach ein paar Tagen machen wir Stopp in Kas - ein Kontrastprogramm zu allem bisher Erlebten. Der ehemalige Fischerort, der bis Ende der 70er Jahre per mit Boot erreichbar war, hat sich nach dem Anschluß ans Straßennetz zu einem florierenden Touristenstädtchen entwickelt. Dutzende Restaurants, Teppichläden und Boutiquen haben sich im Zentrum in die alten Häuser eingenistet. Jahr für Jahr wachsen neue Pensionen und Hotels den Hang hinter dem Dorf hinauf. Den Touristen werden Freizeitbeschäftigungen wie Tauchen und Gleitschirmfliegen angeboten, im Hafen werben die Besitzer von Charteryachten um Tagesausflügler. Freitags allerdings dominiert nicht der Touristentrubel das Städtchen, freitags ist Markt. Unter kreuz und quer gespannten Baumwollplanen verkaufen Bauern und Händler aus der Umgebung auf einem Schotterplatz am Stadtrand ihre Waren: Ziegen- und Schafskäse, bergeweise Orangen, Bananen, Peperoni, frischen Tabak, handgeschmiedete Kuhglocken und selbstgeschnitzte Holzlöffel. Oder Plastikkleiderbügel, Rasierseife, T-Shirts, Unterwäsche und Rolexuhren-Imitate. "Very good quality", werben die Händler um Kundschaft. Wer sich nichts aufschwatzen lassen will, muß hartnäckig sein.

Wenn man dies aber mit einem freundlichen Lächeln verbindet, bekommt man auch eines zurück.