Nach ihrem ersten Treffen schliefen sie Wand an Wand. “Ich liebe dich“, klopfte er in Morsezeichen. Sie antwortete: “Ich habe es gehört.“

Ammersbek. Sie kann den Blick nicht von ihm lassen. Liebevoll lächelt sie den Mann an, der mit ihr auf der Holzbank sitzt. Er, ein adretter Herr in koboldblauen Hemd, flirtet zurück. Macht ihr immer wieder Komplimente. Bringt sie zum Lachen. Fast könnte man denken, die beiden seien ein frisch verliebtes Pärchen. Sind sie aber nicht. Rosemarie und Josef Thye sind seit 50 Jahren verheiratet. An diesem Sonnabend feiert das Paar mit Familie - darunter drei Kinder und drei Enkel - und Freunden seine goldene Hochzeit.

"Sie ist mir sofort aufgefallen", erinnert sich Josef Thye. Damals. 1958. In Hamburg. In der Schmilinskystraße. "Ihr Bruder Paul war mein Arbeitskollege, und wir haben zusammen in einem Kolpinghaus in St. Georg gewohnt, einer Unterkunft für wandernde Gesellen", sagt der Rentner, der im niedersächsischen Rieste aufwuchs und nach seiner Lehre als Tischler in mehreren deutschen Städten sein Glück versuchte. Rosemarie habe ihren Bruder oft besucht. "Von meinem Zimmer aus konnte ich manchmal beobachten, wie sie die Straße entlangging." Und was ging ihm dabei durch den Kopf? "Schmucke Deern. Die wäre auch was für mich", sagt der 77-Jährige und grinst verschmitzt.

"Den ersten Abend haben wir am 24. Juni verbracht", sagt Rosemarie Thye. Das Datum werde sie nie vergessen. Sie habe damals als Hauswirtschaftsleiterin in einem Kinderheim im Harz gearbeitet und sei bei Paul zu Besuch gewesen. "Ich habe meinem Bruder beim Packen geholfen, da er ein paar Tage später nach Australien ausgewandert ist", erinnert sich die 77-Jährige. "Abends wollten wir ins Kino." Josef Thye schloss sich den beiden ungefragt an. "Der Film war mir schnurzegal. Ich wollte einfach nur einen Draht zu ihr finden", sagt er. Ja, es sei der Abend gewesen, an dem es zwischen ihnen geknistert habe. Auch Rosemarie Thye kann sich weder an den Filmtitel noch an die Namen der Schauspieler erinnern.

"Danach waren wir in einer Gaststätte und haben Grog getrunken", sagt sie. "Das war schon etwas gefährlich." Damit meint sie nicht den Alkohol, sondern die erste Annäherung unter dem Tisch. "Wir haben gefüßelt", schwärmt Josef Thye. Wunderschön sei das gewesen. Prickelnd. Aufregend. "Schon da war ich bis über beide Ohren in sie verliebt."

Später sei jeder in sein Zimmer gegangen. "Nur eine Wand hat unsere Betten getrennt." Er blickt wieder zu seiner Frau und klopft auf die Armlehne der Bank. Die Geräusche, die bei Rosemarie Thye ein glückliches Strahlen auslösen, wirken für Außenstehende wie eine Geheimsprache. "Das sind Morsezeichen", sagt ihr Mann. Genauso habe er damals an die Wand geklopft. "So habe ihr zum ersten Mal gesagt: Ich liebe dich." Es sei schon eine ungewöhnliche Liebeserklärung gewesen, sagt sie. "Vor allem unvergesslich." Und wie hat sie reagiert? "Ich habe zurückgeklopft: Ich habe es gehört!" Die beiden gickeln. Von dem klischeehaften Bild eines alten Ehepaars sind sie meilenweit entfernt.

Nach dem Besuch in Hamburg trennten sich ihre Wege aber wieder. "Wir haben Adressen ausgetauscht. Aber ich habe uns kaum eine Chance eingeräumt", sagt sie. "Außerdem dachte ich, er sei ein Schlitzohr." War Josef Thye aber nicht - dafür verrückt nach der hübschen Frau mit dem Kurzhaarschnitt. "Als sie auf meine Briefe nicht antwortete, schrieb ich 'Entweder du antwortest, oder es ist Schluss'", sagt er. Noch am selben Tag verfasste sie einen Brief. Das Happy End lag jedoch noch in weiter Ferne.

Bevor Rosemarie und Josef Thye 1969 mit zwei Töchtern und einem Sohn in ihr Haus in Ammersbek zogen, stellten sie ihre frische Liebe zunächst auf eine harte Probe. "Seit ich in Hamburg war, hatte ich den Traum, zur See zu fahren", sagt Josef Thye. Wenn er über die unendliche Weite des Meeres spricht, kann man das Salz in der Luft fast riechen. "Am 1. September 1958 sollte es losgehen. Viereinhalb Monate mit einem Frachter nach Australien und zurück." In einem Brief habe er ihr die Pistole auf die Brust gesetzt und geschrieben: "Falls du mich vorher noch mal sehen will, musst du vorbeikommen." Sie wollte. Und fuhr nach Hamburg. "Am ersten Abend haben wir uns auf einer Parkbank das erste Mal geküsst. Mit viel Herzklopfen", sagt sie. Herzklopfen habe sie auch zwei Tage später gehabt, als sie ihn zum Hafen begleitete. "Ich war traurig, und mir war mulmig zu Mute. Schließlich kannte ich diese ganzen Matrosengeschichten." Bevor er an Bord ging, schworen sich die Beiden ihre Liebe. "Ich warte auf dich", habe sie ihm gesagt. Die folgenden Wochen schrieben sie sich Briefe. "Viele Briefe", betont Josef Thye. "Denn die Sehnsucht war nicht ganz so schlimm, wenn man sich alles von der Seele geschrieben hatte." Sie hätten in den Briefen Zukunftspläne geschmiedet, die Liebe zum anderen beteuert.

Nach seiner Rückkehr kaufte Josef Thye als erstes einen Ring. "In einem Tanzlokal hat er mir den Antrag gemacht", sagt Rosemarie Thye. Natürlich habe sie sofort Ja gesagt. Obwohl sie wusste, dass er bereits in wenigen Tagen wieder an Bord gehen würde und sie sich wochenlang nicht sehen würden. "Es wurde die letzte Fahrt. Den Traum von der See habe ich dann aufgegeben. Für meine Frau", sagt er. Für die Liebe seines Lebens. Der er am 9. Juli das Ja-Wort gab. "Bis dahin hatten wir uns an nur 16 Tagen gesehen", sagt Rosemarie Thye und lacht. Dass sie füreinander bestimmt sind, wussten sie trotzdem.

Bei der Frage, wie es gelingt, auch nach 50 Jahren Ehe die Liebe am Leben zu erhalten, muss Josef Thye kurz überlegen. Er schaut seine Frau an. Tiefe Zuneigung spiegelt sich in seinen Augen: "Wer sich schwer tut, aus dem Ich ein Wir zu machen, der schafft es nicht." Rosemarie und Josef Thye haben es geschafft. Und noch viel mehr. Gemeinsam strahlen sie ein Glück aus, das selbst bei frisch verliebten Pärchen nur selten zu sehen ist.