Mein lieber Vincent,

deine Mama hat mir geschrieben, Du würdest jeden Abend im Bett für die Besatzung und mich beten. Natürlich können Dir jetzt nicht alle Besatzungsmitglieder schreiben, aber ich glaube, wenn ich ihnen davon erzählen würde, wären sie sehr glücklich. Hier gibt es viele an Bord, die in Deutschland Familien haben und die sehr traurig sind, daß sie jetzt nicht bei ihnen sein können. Warum fahren sie nur so lange auf einem Forschungsschiff?

Du fragst mich oft danach, wie Gott aussieht, und ich kann es Dir sicher nicht immer richtig beantworten, da wir Menschen so viele Dinge bauen und reden, die ihn vielleicht erschrecken und ihn manchmal sogar vertreiben. Ich glaube, dieser Gott, zu dem Du täglich betest, befindet sich in der Blume an unserem Teich, in der Baumkrone unserer Eiche, ja in allen Dingen, die wachsen, und sicher ist er auch in uns. Richtig wohl fühlt er sich aber dort, wo er alleine seine Größe und Schönheit leben kann.

Das Meer könnte so ein Ort sein. Ich stehe mit dem Kapitän auf der Brücke und schaue auf die offene See, über uns bewegen sich die Wolken wie kleine Schafe. Und wir beide können eigentlich nicht viel sagen, da dieses große Meer in keine Badewanne paßt und so wunderschön ruhig und still sein kann. Wenn das Meer dann aber einmal das Schiff wie eine Spielzeugfigur in den großen Wellen hochhebt, spüren wir wieder, wie klein wir sind.

Viele Menschen sind schon auf die Meere hinausgefahren und wollten ergründen, warum es so still und doch wieder so mächtig wild sein kann.

Wir Menschen auf diesem Schiff, die Besatzung mit ihren Forschern, suchen genau nach diesem Geheimnis. Diese Stille und Schönheit, soweit Du schauen kannst, möchten sie bewahren, nicht nur erforschen. Sie möchten anderen Menschen an Land davon erzählen, damit auch sie diese Schönheit erkennen und schützen. Ich werde jetzt wieder auf die Brücke gehen, an Dich denken und wäre glücklich, wenn ich diesem Gott auf dem Meer ein Stück näherkommen könnte.

Umarme Deine Mama, Dein Freund und Papa Holger