War der “Durchbruch“ eines Tübinger Forschers nur ein Trugschluss? Das behaupten jetzt Kollegen in einer ungewöhnlich scharfen Kritik

Tübingen. Bahnt sich jetzt auch in Deutschland ein Skandal in der Stammzellforschung an? Es ist kaum zwei Jahre her, da sorgte der Tübinger Forscher Prof. Thomas Skutella mit der Nachricht für Aufsehen, er habe aus menschlichem Hodengewebe pluripotente Stammzellen gewonnen. Das sind Zellen, die sich zu unterschiedlichen Gewebetypen entwickeln können. Jetzt kommen zwei deutsche Forschergruppen in einer neuen Studie, die heute auf der Website des Magazins "Nature" erscheinen soll, zu dem Schluss: Die Zellen der Tübinger Forscher seien nicht pluripotent, sondern wahrscheinlich nur einfache Bindegewebszellen.

Erste Zweifel an Skutellas Ergebnissen kamen auf, als dieser der Bitte, Proben seiner Zellen anderen Forschern zur Verfügung zu stellen, nicht nachkam - ein Verfahren, zu dem jeder verpflichtet ist, der etwas in "Nature" publiziert. Das Team von Hans Schöler am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster hatte Skutella Mitte 2008 um eine Zellprobe gebeten. "Nachdem ich von Prof. Skutella monatelang vertröstet worden bin, habe ich ihn mehrfach gebeten, dass ich eine Person nach Tübingen schicke oder er eine Person nach Münster, um das Verfahren aus der Nähe zu betrachten. Sogar meine Bitte, seine Zellen in Tübingen anzusehen, hat er mit Ausreden abgelehnt", behauptet Schöler. Erst ein Jahr später lieferte Skutella in "Nature" die Begründung, dass die ursprüngliche Einverständniserklärung der Gewebespender es nicht erlaubte, die Zellen an andere weiterzugeben. Nun sei das Team dabei, neue Zellen zu züchten.

Seitdem sind neun Monate vergangen - genug Zeit für die Züchtung neuer Zellen, behauptet Schöler: "Die Bereitstellung neuer Zell-Linien hätte eigentlich nicht länger als einen Monat dauern dürfen." "Aber bisher stehen der Wissenschaftscommunity diese Zellen auch weiterhin nicht zur Verfügung", ergänzt Prof. Martin Zenke, Direktor des Instituts für Zellbiologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

"Diese Behauptungen sind völlig grotesk", entgegnet Thomas Skutella, der eine Replik auf die Vorwürfe verfasst hat, die heute ebenfalls auf der Website von "Nature" erscheinen soll. Erstens sei schon vor längerer Zeit eine schriftliche Einladung an seine Kritiker ergangen: "Herr Schöler kann gerne bei uns in Tübingen vorkommen und sich die Zellen anschauen - wir dürfen sie nur nicht herausgeben." Zweitens könne es viele Monate dauern, menschliche pluripotente Zellen zu züchten. An gesundes Hodengewebe sei nur schwer heranzukommen, er müsse neue Ethikanträge stellen und brauche von potenziellen Spendern nun eine weitergehende Erlaubnis, um neue Zellen Dritten zur Verfügung zu stellen. "Herr Schöler arbeitet mit Mäusegewebe, das leicht und schnell zu beschaffen ist. Mit der aufwendigeren Erforschung von menschlichem Gewebe hat er keine Erfahrung", sagt Skutella.

Schöler und Zenke hatten Originalergebnisse von Skutellas Studie analysiert, die von jedem Forscher in eine öffentliche Datenbank gestellt werden müssen. Sonst werden sie nicht von "Nature" publiziert. Die Forscher nutzten dafür Genexpressionsanalysen. Damit wurde die Aktivität von rund 40 000 Genen in einer Zelle erfasst. Jede Körperzelle zeigt ein typisches Profil von hoch aktiven, schwach aktiven oder stillgelegten Genen.

"Die Zellen, die in der Studie beschrieben worden sind, haben wir mit embryonalen Stammzellen verglichen. Dabei hat sich gezeigt, dass keine Ähnlichkeit besteht, sondern eher eine Ähnlichkeit mit Bindegewebszellen", sagt Zenke. Daraufhin stellte Schöler Bindegewebszellen aus Hodengewebe her und verglich sie mit Skutellas Daten: Sie seien identisch gewesen. "Ich kann nicht nachvollziehen, wie die Kollegen in Tübingen den Schluss ziehen konnten, dass ihre Zellen pluripotent sind", sagt Zenke. Naheliegender sei, das Skutellas Team statt Stammzellen versehentlich Bindegewebszellen gezüchtet habe. Skutella widerspricht: "Man sieht bei unseren Zellen eindeutig, dass sie sich in alle drei Keimblätter entwickeln können." Diese Fähigkeit besitzen nur pluripotente Stammzellen.

Warum haben Schöler und Zenke ihren Verdacht öffentlich gemacht? "Es gibt Wissenschaftler, die auf diesem Papier aufbauend weitere Forschungen durchführen. Wenn sich herausstellt, dass diese Ergebnisse nicht reproduzierbar sind, wäre das ein großer Schaden für die Stammzellforschung", sagt Zenke. "Neben der wissenschaftlichen Klarstellung ist es wichtig, dass diese Arbeit Wissenschaftler aus dem Feld zum Teil gelähmt und in die falsche Richtung geschickt hat", sagt Schöler.

Eine solche Klarstellung habe es schon längst gegeben, entgegnet Thomas Skutella verwundert: "Mehrere Forschergruppen haben unsere Ergebnisse bereits reproduziert." Wann er so weit sei, neu gezüchtete pluripotente Zellen Dritten zur Verfügung zu stellen, könne er derzeit zwar noch nicht sagen, aber: "Wir arbeiten daran."