Wissenschaftler aus Münster entwickelten eine neue Methode, erwachsene Zellen in ein embryonales Stadium zu versetzen. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu “menschlichen Ersatzteillagern“.

Deutsche Wissenschaftler haben in menschliche Zellen eine Art Jungbrunnen eingebracht - mit Hilfe nur eines einzigen "Schalters". Das gilt als Meilenstein auf dem (noch) weiten Weg, Kranke mit körpereigenen, maßgeschneiderten Reparatursets zu heilen.

"Wir mussten fast acht Wochen warten, bevor wir sahen: Unser Kapitän, das Gen Oct4, hatte wirklich alle Matrosen an Deck bekommen. Eine Zeit, in der wir oft angespannt waren", sagte Professor Hans R. Schöler dem Abendblatt. Der weltweit renommierte Stammzellforscher ist Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für molekulare Biomedizin in Münster. Er hatte bereits 2002, damals noch in den USA, gezeigt, dass das Oct4-Gen für eine normale Embryonalentwicklung nötig ist.

Seitdem war der Molekularbiologe an mehreren bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der regenerativen Medizin beteiligt. Jetzt knackten er und sein Kollege Jeong Bo Kim eines der größten Probleme der Reprogrammierung von erwachsenen Zellen. Sie schleusten nur das Gen Oct4 in menschliche Nervenzellen und erhielten künstliche embryonale Stammzellen, sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Um die Potenz der iPS-Zellen zu beweisen, stellten sie aus ihnen glatte Muskelzellen her.

Dieser Erfolg ist in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Fortschritt für die klinische Nutzung pluripotenter Stammzellen. Bislang verwandelten sich menschliche Haut-, Nerven- oder Blutzellen nur dann in einen fast embryonalen Zustand zurück, wenn gleich vier Substanzen sie dazu zwangen. Doch es war nicht nur die Anzahl an Substanzen, weshalb dieses Verfahren noch nicht optimal war. Der kleine Gencocktail barg auch die Gefahr, dass die quasi unbegrenzt vermehr- und wandelbaren Stammzellen zu Krebszellen entarteten. Denn zwei der Gene waren Tumorgene. Deshalb waren diese iPS-Zellen für eine Therapie ungeeignet.

"Zum anderen hat sich inzwischen in Tierversuchen gezeigt", erläutert Prof. Schöler, "dass für die Behandlung von Hautleiden die iPS-Zellen besser geeignet sind, die aus Bindegewebszellen gewonnen wurden. Um Nervenerkrankungen zu behandeln, sollten dagegen am besten iPS-Zellen verwendet werden, die von Nervenzellen abstammen." Diese Quellen lassen sich mit der neuen Technik leichter erschließen.

Der Erfolg der Münsteraner Forscher unterstreicht zudem, dass die iPS-Technologie Deutschland die Chance bietet, zu einem der "Key Player" auf dem Gebiet der Stammzellforschung zu werden. Lange Zeit fürchteten deutsche Stammzellforscher, international abgehängt zu werden. Anders als in Großbritannien, Israel, Japan, Indonesien, China oder Australien dürfen deutsche Wissenschaftler keine embryonalen Stammzellen herstellen - und sie dürfen auch längst nicht alle Stammzelllinien importieren, die es im Ausland gibt. Das beschloss der Bundestag nach einer heftigen Debatte 2002; an diesem Grundsatz änderte sich auch mit der Lockerung des Stammzellgesetzes vor einem Jahr letztlich nichts. Der Grund: Embryonale Stammzellen werden fünf Tage alten Embryonen entnommen, die danach tot sind. iPS-Zellen sind dagegen ethisch und juristisch unbedenklich - und medizinisch attraktiv. Kürzlich züchteten chinesische Forscher aus iPS-Zellen quietschlebendige Mäuse - der lebende Beweis, dass die iPS-Zellen den natürlichen embryonalen Stammzellen ebenbürtig sind.

Dennoch bleibt viel zu tun, damit aus den Heilsversprechen der Forscher Therapien werden. So sollte in den USA in diesen Tagen die weltweit erste medizinische Studie mit embryonalen Stammzellen beginnen. Doch die US-Gesundheitsbehörde FDA zog die Genehmigung zurück und verlangte weitere Auskünfte, bevor die kalifornische Biotech-Firma Geron ihren spektakulären Versuch starten darf.

"In naher Zukunft sehe ich keine Therapien", sagte Schöler. Den größten Fortschritt erwartet er in der medizinischen Forschung. In Zellkulturen könne man das komplexe Krankheitsgeschehen, das Zusammenspiel von Genen, Proteinen und Umwelt studieren, indem man unterschiedliche menschliche Zelltypen reprogrammiere, im Reagenzglas vermehre und daraus verschiedene Typen von Körperzellen züchte. "Das eröffnet Chancen für neue Medikamente."

Schöler wäre nicht Schöler, wenn er nicht eine Vision parat hätte. Wäre es nicht großartig, fragt er eher rhetorisch, wenn wir eine europäische Nabelschnurblutbank hätten? Aus den darin lagernden Zellen, deren Eigenschaften genau bestimmt worden sind, könnte mit der neuen Technik jedes Ersatzgewebe gezüchtet werden. Herzzellen für Hamburg, Nervenzellen für Berlin, Leberzellen für Rom - die Zukunft der Stammzellforschung hat gerade erst begonnen.