In Workshops können Besucher der BallinStadt das Know-how der Familienforschung erlernen

Zum ersten Mal bekommt der Name jetzt auch ein Gesicht: Rainer Dießner hat ein vergilbtes Dokument an die Wand gebeamt, auf dem ein Passbild von Otto Keuneke zu sehen ist: ein junger Mann mit Sakko, hellem Hemd und Fliege. Es ist ein Passantrag von 1920, von einer amerikanischen Behörde für einen eingewanderten Deutschen ausgestellt, der in die alte Heimat reist. Als Reisegrund ist aufgeführt, "um Mutter und Vater zu besuchen".

Vor ein paar Wochen waren Nachfahren von Keuneke ins Familienforschungszentrum der BallinStadt gekommen, um etwas über sein Schicksal zu erfahren. Und einiges konnten Rainer Dießner und Bärbel Wresch, die beide früher im Staatsarchiv tätig waren und nun in der BallinStadt arbeiten, tatsächlich in Erfahrung bringen: Otto Keuneke, dessen Lebensweg nun in einem Workshop beispielhaft erklärt wird, wurde am 3. April 1894 in Deutschland geboren. Unter dem Datum vom 24. Juli 1909 taucht er auf einer Hamburger Passagierliste auf. An einem Sommertag des Jahres 1910 wird der damals 16-Jährige mit Hoffnungen und wohl auch einer gewissen Bangigkeit am Bord gestanden und schon aus weiter Ferne die Freiheitsstatue betrachtet haben, bevor er das Schiff verließ, um die Einwanderungsformalitäten auf Ellis Island über sich ergehen zu lassen. In späteren Dokumenten erscheint der Wohnort St. Joseph im US-Bundesstaat Michigan. Keuneke hat es offenbar geschafft, in der Neuen Welt Fuß zu fassen. War er für die Daheimgebliebenen der sprichwörtliche reiche Onkel aus Amerika? "Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er nach seinem Deutschlandbesuch in die USA zurückgekehrt ist. Im Sterbeindex der amerikanischen Sozialversicherung wird der 28. November 1976 als Keunekes Todesdatum angegeben", sagt Rainer Dießner zu den Teilnehmern des Workshops "Einführung in die Familienforschung".

"Ist es nicht merkwürdig, dass unser Familiengedächtnis nur so wenige Generationen zurückreicht? Wir kennen die Großeltern, aber wie steht's mit den Lebensdaten unserer Urgroßeltern? Wissen wir, welches Leben sie geführt, welche Berufe sie ausgeübt haben?", fragt Bärbel Wresch, um dann zu erklären, wie sich dieses Wissensdefizit nachträglich zumindest teilweise ausgleichen lässt. Das Interesse ist groß, alle acht Computerarbeitsplätze im Familienforschungszentrum sind besetzt.

Zuerst erfahren die Teilnehmer, was man braucht, um eine Zeitreise in die Vergangenheit der eigenen Familie anzutreten, nämlich Dokumente: Urkunden, Stammbäume, unter Umständen auch den berüchtigten "Ariernachweis" aus der NS-Zeit, vor allem aber Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden - jene amtlichen Schriftstücke also, die die Eckpunkte des Lebens markieren. Die Daten, die aus den schriftlichen Dokumenten hervorgehen, bilden dann die Grundlage für die Internet-Recherche, für die in der BallinStadt die Datenbestände des amerikanischen Anbieters Ancestry genutzt werden können. Nach einer zweistündigen Einführung haben die Workshop-Teilnehmer dann noch etwas Zeit, unter der Anleitung der beiden Kursleiter nach ihren eigenen Vorfahren zu fahnden.

Das ist vor allem dann interessant, wenn es sich um Menschen handelt, die ausgewandert sind. Ancestry hat die Daten zahlreicher amerikanischer Ämter eingespeist, was es oft möglich macht, zumindest ein grobes Lebensprofil zu erstellen. Und manchmal bekommt auch ein Vorfahre, von dem man vielleicht nur den Namen wusste, bei der Recherche wieder ein Gesicht: der Urgroßonkel als junger Mann - wie Otto Keuneke, der auf dem vergilbten Passfoto so ernst und stolz aussieht wie einer, der in der Neuen Welt sein Glück gemacht hat.