Der 16-jährige Ben Kinsella ist einer von schon 20 jungen Menschen, die in diesem Jahr in London erstochen wurden. Er hatte seinen Tod in einem Aufsatz sogar vorempfunden.

London. Es war, als hätte er seinen Tod vorhergesehen. "Das Pflaster fühlt sich so kalt an", schrieb Ben Kinsella (16) in einem Schulaufsatz. "So kalt an meinem durchbohrten Rücken. Alles ist kalt. Und wie ich meinen Killer anstarre, sehe ich, dass auch nicht der leiseste Anflug von Reue ihn erfasst ob der Tat, die er gerade begangen hat. Ich bin ein Opfer der Monstrosität, in welche sich die Gesellschaft verwandelt hat."

Drei Wochen später wurde aus der kreativen Schreibübung Bens eigener Epitaph.

Der Junge, den seine Lehrer als sehr begabt beschrieben, hatte am 29. Juni eine Geburtstagsparty in einem Pub im bürgerlichen Londoner Stadtteil Islington besucht, als unter rivalisierenden Jugendgangs ein Streit ausbrach. Ben geriet zwischen die Fronten, versuchte sich auf die Straße zu retten. "Gegen zwei Uhr morgens rief er mich auf dem Handy an, rief 'Hilfe'", sagt sein Freund David Dugdale. "Im Hintergrund hörte ich jemanden rufen: 'Fangt ihn, fangt ihn.' Dann war die Leitung tot."

Bens Mörder fielen über ihn her, versetzten ihm Dutzende Messerstiche in Rücken und Brust und ließen ihn blutend auf dem kalten Asphalt zurück. Zweimal wurde der Jugendliche von den Sanitätern auf dem Asphalt wiederbelebt, seinen letzten Atemzug tat er im Krankenwagen in den Armen seines Freundes Louis (16). Ben Kinsella, der Bruder der TV-Nachwuchs-Schauspielerin Brooke Kinsella, war der 17. von bisher schon 20 Jugendlichen, die in diesem Jahr in London erstochen wurden.

Wenige Tage nach der Tat verhaftete die Polizei zwei 18-Jährige und einen 19-Jährigen. Noch während die drei Verdächtigen verhört wurden, starb am 3. Juli das 18. jugendliche Mordopfer - bei einer besonders kaltblütigen Attacke, die mitten am Tag stattfand, um 13.45 Uhr.

Shakilus Townsend war von einem Mädchen als Köder in eine Wohngegend in Südlondon gelockt worden. Doch statt des erhofften Rendezvous wurde er von vier maskierten Angreifern mit Tritten und elf Messerstichen in einem Hauseingang zu Tode gequält. Auch er wurde nur 16 Jahre alt. "Ich will nicht sterben", flüsterte "Shaki" in seinen letzten Sekunden Dee Bamina (35) zu, die versuchte, seine Blutungen zu stoppen. "Wo ist meine Mutter? Ich will meine Mutter."

Großbritannien - ein Land sieht hilflos zu, wie Kinder Kinder töten. "Ich fürchte, dass sich das Tragen von Messern nun in die kollektive DNA einer ganzen Generation Jugendlicher eingegraben hat", kommentierte Polizeiminister Tony McNulty kürzlich. Die beispiellose Gewaltwelle ist über das ganze Land geschwappt: Täglich werden Dutzende Verletzte mit Stichwunden in die Krankenhäuser eingeliefert. Lehrer, Krankenhausmitarbeiter und Parkwächter fürchten so sehr um ihre Sicherheit, dass sie Schutzwesten bestellen.

Nun will der Inselstaat endlich Fakten schaffen: Scotland Yard hat angekündigt, dass Messerkriminalität fortan eine höhere Priorität als Terrorismus habe. Die Londoner Metropolitan Police will mit einer 75 Mann starken Sondereinheit auf Messerstecherjagd gehen, die Regierung für Ärzte eine Meldepflicht für Stichwunden sowie härtere Strafen für Messerstecher einführen.

Tatsächlich ist die Zahl der Messerstechereien weitaus höher, als die offiziellen Statistiken angeben. Im vergangenen Jahr wurden 14 000 Menschen mit Stich- und Schnittwunden in Krankenhäuser eingeliefert - ein Anstieg um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und die Opfer werden immer jünger. "Früher waren es Einzelfälle an Wochenenden, aber nun behandeln wir fast jeden Tag ein Messer-Opfer", sagt Dr. Tunki Lasoye vom King's College Hospital in London. "Vor einiger Zeit waren es noch Leute über 20, jetzt sind es Teenager. Zehn Prozent der Verletzten sind Mädchen, das gab es vor vier oder fünf Jahren noch gar nicht." Das jüngste Opfer war erst neun Jahre alt. Das Mädchen war von einem zehnjährigen Jungen überfallen worden, weil er ihre Spielkonsole wollte. Der Fall wird zurzeit vor einem Londoner Gericht verhandelt: In England liegt die Strafmündigkeit bereits bei zehn Jahren.

Viele Behörden sorgen sich inzwischen um ihre Mitarbeiter, die "mehr Schutz" benötigten. Lokale Verwaltungen haben bereits 20 000 kugel- und stichsichere Westen gekauft, vor allem für Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitssystems. Aber auch Lehrer, Bahnmitarbeiter und Parkwächter zeigen Interesse. Lehrer seien inzwischen "der größte Wachstumsmarkt", sagt Peter Warren vom Schutzwesten-Hersteller Body Armour Company. "Wir haben viele private Anfragen. Schulleiter wissen, dass ihre Lehrer gefährdet sind und die Messerkriminalität steigt."

Auch die Polizei rüstet auf. Bereits im Mai ist die "Operation Blunt 2" angelaufen, in deren Rahmen Polizisten mit Metalldetektoren und Sondervollmachten einschlägige Londoner Viertel durchkämmten. 27 000 Menschen wurden durchsucht, 1214 festgenommen und 528 Messer sichergestellt.

Diese Razzien sollen nun ausgeweitet werden. Die neue, 75 Mann starke Task Force der Metropolitan Police will bekannte Gang-Mitglieder ins Visier nehmen und nach Belieben Durchsuchungen vornehmen. Jeder Messerbesitz soll nun angezeigt werden. "Wir müssen die Nachricht ganz simpel rüberbringen", sagt der stellvertretende Polizeichef Paul Stephenson. "Wer ein Messer trägt, wird gefasst, angezeigt und kommt ins Gefängnis."

Diese Drohung und alle Bemühungen kommen jedoch zu spät für den 14-jährigen David Idowu, das jüngste und 19. Mordopfer des Jahres. David wurde im Südlondoner Stadtteil Southwark in Brust und Bauch gestochen, nachdem auf einem Fußballfeld ein Streit ausgebrochen war. Drei Wochen nach der Attacke erlag er am vergangenen Montag seinen Verletzungen. Der mutmaßliche Täter war gerade 16 Jahre alt. "David war doch erst 14", sagte ein Polizist der Mordkommission, der sein Entsetzen über den Fall kaum verbergen kann. "Er war doch nur ein Kind."

Auch die Politik hat umgedacht. Bislang hatte der neue Londoner Bürgermeister Boris Johnson immer beteuert, die Chancen, in der Hauptstadt mit einem Messer angegriffen zu werden, seien "mikroskopisch" und die Bürger müssten "mehr Bereitschaft" zeigen und in Streitereien eingreifen. Nach dem Tod von Ben Kinsella machte er jedoch einen Rückzieher: "Ich sage zu den Kids, die heute Abend ausgehen und eine Prügelei sehen: Haltet euch da raus. Geht weg."

Während kurz nach der Tat mehr als vierhundert Jugendliche in weißen T-Shirts in den Straßen der Hauptstadt gegen Messerkriminalität demonstrierten und Hunderte Londoner im Gedenken an Ben Kinsella zu einer Mahnwache zusammenkamen, brütet Premierminister Gordon Brown über einem Report, der die britische Rechtslage kritisiert: "Die Gesetzgebung ist ein Kuddelmuddel. Es gibt keine Rechtsstrukturen, die Messer und Waffen als Ganzes behandeln."

Das Dossier schlägt unter anderem vor, das Tragen von Messer-Repliken künftig zu bestrafen, das Fünf-Zentimeter-Gesetz, wonach nur das Tragen von längeren Klingen strafbar ist, abzuschaffen und Schlichtungs-Teams einzurichten, die rivalisierenden Straßenbanden helfen, Friedensabkommen auszuhandeln. Das Justizministerium kündigte an, die Strafen für Messerverbrechen und das Tragen von Messern verschärfen zu wollen.

Erst wenige Wochen vor seinem Tod hatte Ben Kinsella im Rahmen einer Schul-Prüfungsarbeit einen Brief an Premierminister Gordon Brown geschrieben, in dem er ihn drängte, die Messerkriminalität energischer zu bekämpfen.

"Die Regierung sitzt tatenlos da. Gewalt ist ein Teil unserer Kultur geworden", schrieb er und schlug eine Ausgangssperre ab 22 Uhr für Jugendliche vor. "Jugendgewalt hat einen tödlichen Höhepunkt erreicht", endet der Brief. "Wann wird es endlich aufhören?"