Wo Goethes Faust die Zeche prellte und Telefon-Erfinder Reis geboren wurde: In Gelnhausen liegt das geografische Zentrum der EU.

Gelnhausen-Meerholz. Am Landschaftsschutzgebiet entlang führt ein schmaler Kiesweg in den Wald. Ein paar knorrige Apfelbäume und zwei hölzerne Aussichtstürme stehen Spalier. Der Acker daneben matscht mächtig; zartes Grün sprießt aus tonhaltigem Grund. Ein Förster kommt des Weges, mit einem Jagdhund am Fuß. "Moin!" Beide blicken misstrauisch. Sonst ist keine Seele zu entdecken.

Willkommen am Mittelpunkt Europas - dem geografischen zumindest. Die Koordinaten, von den Ingenieuren des Institut Geographique National in Frankreich präzise errechnet: 9 Grad, 9 Minuten, 0 Sekunden östlicher Länge und 50 Grad, 10 Minuten, 21 Sekunden nördliche Breite.

Am Ackerrand sind drei nicht eben stämmige Fahnenmasten in den Grund gerammt; davor steht eine Holzbank. Vom Baumarkt, blau getüncht. Aufschrift: "Europäische Zentral-Ruhe-Bank". Die Flaggen hat jemand gestohlen, ebenso das neue Hinweisschild am Ortseingang von Meerholz.

"In einer Nacht- und Nebelaktion", weiß Eckhard Paul. Das passt ins Bild. Weil auch die Kreisstadt Gelnhausen, an der Autobahn 66 zwischen Fulda und Frankfurt in hügeliger Landschaft malerisch gelegen, über Nacht Berühmtheit erlangte.

"Komm zu deinem Acker", hatte Bürgermeister Jürgen Michaelis (64) aufgeregt ins Handy gerufen. "Gib Gas!" Als Eckhard Paul (47) am Weizenfeld im Gelnhäuser Ortsteil Meerholz eintraf, offenbarte sich ihm ein skurriles Szenario: Kamerateams trampelten über den Acker, die Musiker einer Blaskapelle packten hektisch Instrumente aus, Bürgermeister Michaelis kämpfte mit dem Zapfhahn eines voluminösen Bierfasses. "Hoch die Tassen!", hieß es. "Ein Prosit auf Gelnhausen - den Mittelpunkt Europas!"

Durch die Beitritte Rumäniens und Bulgariens zum Jahreswechsel hatte sich das geografische Zentrum der Europäischen Union um knapp 100 Kilometer gen Osten verlagert - vom Dorf Kleinmaischeid in Rheinland-Pfalz nach Gelnhausen/Meerholz in Hessen. Das begriff nicht nur Bürgermeister Michaelis als "Geschenk des Himmels". Statt bisher rund 100 000 Touristen könnten bald 30 Prozent mehr durch die schmucken Altstadtgassen bummeln.

Nicht jeder kann sich darüber freuen. Zum Beispiel nicht die Bürger des Nachbardorfs Hasselroth. Am 2. Januar hieß es voreilig, dass ihre Gemeinde den EU-Mittelpunkt stelle. Die spontane Feier jedoch, ebenfalls mit Kapelle, Freibier und frisch gedruckten Ortsschildern ausgestattet, fiel mit Pauken und Trompeten ins Wasser. Die Vermesser aus Frankreich hatten ihre Daten um 45 Meter nordwestlich korrigiert.

Da stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Vermessungsprinzip. "Gemeint ist das Gravitätszentrum", wird Gelnhausens Bürgermeister Michaelis später im Rathaus erläutern. Wenn man die Europäische Union ausschneiden und auf eine Metallspitze legen würde, wäre Meerholz der tragende Punkt. Um sich nicht zur Lachnummer des Kontinents zu machen, hat Hessens Katasteramt nachgemessen. "Alles okay."

So geschah es dann auch - mit ortsüblicher Gemütlichkeit. Auch wenn die Gelnhäuser Ratsherren anderer Meinung sind, fällt das Ergebnis bisher bescheiden aus. Zwar sollen der eine oder andere Bäcker schon mal "Europa-Brötchen" feilgeboten und andere Geschäfte EU-Wimpel in die Schaufenster gehängt haben, doch ist nichts Europäisches zu sehen.

Nun ja, meint Eckhard Paul schmunzelnd, man habe ja auch nicht den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge an diesem Sonntag, sondern den Europa-Tag am 5. Mai im Visier. Dann steht ein Festakt mit Hessens Ministerpräsident Roland Koch auf dem Programm.

Eckhard Paul betrachtet das Thema EU ohnehin zwiespältig. Weil er einerseits die in fünfter Generation betriebene Landwirtschaft 1990 nicht zuletzt wegen der europäischen Agrarpolitik aufgeben und den Acker verpachten musste. Seitdem arbeitet Paul als Kraftfahrer bei Aldi. Andererseits ist er als Chef des lokalen Komitees zur Belebung der Städtepartnerschaft mit Marling in Südtirol aktiv und fühlt sich im Herzen als Hesse und Europäer.

Dass die Fahnen ebenso wie das liebevoll kreierte Ortsschild entwendet wurden, trägt Paul mit Fassung. Zumal nebenan in der Kulturstation ein fröhlicher Künstler namens Q. Fell (mit passender Kopfbedeckung im Kuh-Look) an einer Zweittafel werkelt.

Bürgermeister Jürgen Michaelis (CDU) hat auch Pläne, wie die Gunst des geografischen Schicksals zum Wohle der Barbarossastadt genutzt werden kann. Zwar geht Michaelis am 12. April nach 30 Jahren in den Ruhestand, doch besteht Übereinstimmung mit seinem sozialdemokratischen Nachfolger: Die neue Position als Mittelpunkt der Europäischen Union auf Basis jahrhundertealter Tradition soll Gäste von überall her anziehen.

Tatsächlich kann sich Gelnhausen sehen lassen. Anno 1170 von Kaiser Friedrich I. Barbarossa mit Stadtrechten bedacht und in Folge mehrfach Gastgeber der Reichstage, ist in Gelnhausen Geschichte lebendig. In der Nähe des Schützengrabens erinnert das Geburtshaus Philipp Reis' an den Bäckersohn, der 1861 das erste Telefon vorführte. Im "Löwen" labt sich das Bürgertum an gesottenen Lenden mit Markknochen und anderen Köstlichkeiten hessischer Küche. 1506, so sagt man, habe hier Goethes Dr. Faust feudal Einkehr gehalten - und schamlos die Zeche geprellt.

Einige Schritte weiter erblickte 1622 Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen das Licht des Kinzigtals. Später erlangte er als Barockschriftsteller ("Der abenteuerliche Simplicissimus") Berühmtheit. In der Neuzeit transferierten die Leichtathleten Harald Schmidt und Edgar Itt den Ortsnamen Gelnhausen in die (Sport-)Welt.

Außer nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges litt das Gros der Gelnhäuser selten Not: Die Kaiserstadt profitierte von zwei sich kreuzenden Handelsstraßen. In der Staufferzeit hatte sie mehr Einwohner als Frankfurt am Main und wurde vom Reichssteuerkataster nach Basel als zweitreichste Stadt taxiert.

An der schmalsten Stelle der Via Regia, des ost-westlichen Handelsweges, bewundert Jonas Groth (17) die Inschriften im Mauerwerk. "Europa ist wichtiger denn je", meint der Schüler des beruflichen Gymnasiums. An allen Ausbildungsstätten des Ortes ist Europa fest im Unterrichtsplan verankert. Jetzt erst recht.

Denn wer weiß, wie lang die Gunst der Stunde währt? Sollten eines Tages Kroatien, Serbien, die Türkei oder andere Länder Aufnahme in die EU finden, hätte Gelnhausen als Mittelpunkt ausgedient. Dann, so wurde recherchiert, könnte Frammersbach in Bayern das neue Zentrum sein.