Christian Wulff hatte sich in Berlin auf eine schnelle Wahl eingestellt - in seine Präsidentschaft geht er mit einer Demütigung.

Berlin. Geduld hat Christian Wulff schon immer gehabt. Er musste neun Jahre als Oppositionsführer warten, bis er Regierungschef in Hannover werden konnte. Was sind dann schon neun Stunden in einer Bundesversammlung, wenn man am Ende dafür Bundespräsident wird.

Als das Ergebnis dann endlich stimmt und sogar die absolute Mehrheit da ist, kann man in seinen Gesichtszügen studieren, wie die Last vom Kandidaten des schwarz-gelben Lagers fällt. Es sollte also ein dritter Wahlgang werden. Aber Wulff strahlt - zum ersten Mal nach diesem Tag, den er sich so wohl nie vorgestellt hat. Am Rednerpult sagt er: "Aus Niederlagen habe ich eigentlich immer noch mehr gelernt als aus Siegen."

Der Leitartikel von Abendblatt-Chefredakteur Claus Strunz zur Wahl von Christian Wulff

Vorher hatte er wie ein Verlierer dagestanden. Denn die vielen Stunden vor diesem Augenblick erzählen die Geschichte einer schleichenden Demontage. Sie erzählen von einem Präsidentschaftskandidaten, dessen Optimismus trügerisch war. Sie erzählen von Momenten, in denen Wulff zu spüren bekommt, wie es ist, eigentlich nichts falsch gemacht zu haben und trotzdem bestraft zu werden. So will man in den Sekunden, in denen der Kandidat erst lächelt, dann erstarrt und dann wieder lächelt, die Kunst des Gedankenlesens beherrschen. Es sind die Sekunden, in denen Wulff zum ersten Mal an diesem Tag zu hören bekommt, dass er nicht gewählt ist. Dass es nicht sofort klappen würde, das hatte Wulff als denkbares Szenario eingerechnet. Aber vorbereitet war er auf einen Wahlsieg, der sich auf Anhieb einstellt und den klaren Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung entspricht. Aber nur 600 von 644 schwarz-gelben Wahlleuten denken im ersten Wahlgang genauso wie Wulff.

Seine Parteifreunde, auch die Kollegen von CSU und FDP, hatten ihm in den Stunden vor dem ersten Moment der Demütigung noch freundlich auf die Schulter geklopft, ihm den erhobenen Daumen gezeigt, seine Nähe in der Zählpause gesucht. Es war eine Demonstration der Einigkeit, die Wulff da genießen durfte. Doch Bilder können täuschen. Auch das Strahlen Merkels kurz vor der Verkündung des ersten Ergebnisses muss ihm wie eine Täuschung vorgekommen sein. Der erste Wahlgang ist durch, der getäuschte, enttäuschte Wulff hebt sich schwerfällig von seinem Stuhl in der ersten Reihe. Und genauso schwerfällig verlässt er den Plenarsaal. Wer sich so bewegt, wird normalerweise als angeschlagen bezeichnet.

Nach dem zweiten Wahlgang scheint Wulff noch träger aus dem Saal zu schleichen. Das Ergebnis von 615 Stimmen hat er diesmal in einem Ausdruck zwischen bewahrter Contenance und unverhohlener Qual hingenommen. Wieder hat er sich während der Verkündung leicht zur Kanzlerin gewandt. Als ob er in aller Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen wollte: Seht her, ich bin der Kandidat der Kanzlerin. Die beiden Schlappen habe ich nicht mir selbst, sondern ihr und ihrer Regierung zu verdanken. Eine Minute später verlässt Merkel den Saal, ohne auf ihn zu warten. Die Einzigen, die auf ihn zukommen, ihm gut zureden, sind Andreas Pinkwart und Jürgen Rüttgers, die schwarz-gelben Wahlverlierer aus Nordrhein-Westfalen. Danach kann Wulff wieder lachen. Er weiß von früher, wie sich Niederlagen anfühlen. Zweimal trat er auch in Niedersachsen gegen Gerhard Schröder an und verlor krachend. Erst im dritten Versuch wurde er Regierungschef. Auch aus dieser Erfahrung heraus hatte Wulff sich in den vergangenen Wochen als Ausdauerkämpfer charakterisiert.

+++ Die erste Rede Christian Wulffs als Bundespräsident im Wortlaut +++

Und wie ein Ausdauerkämpfer hatte er bis zuletzt alles getan, um die Sympathien seines Lagers auch in Stimmen umzumünzen. Am Vorabend war Wulff extra länger bei den Fraktionen von FDP und Union geblieben, als er vorgehabt hatte. Es war spät geworden am Dienstag, aber für Wulff sollten es vielleicht die entscheidenden Wahlkampfstunden sein, in denen er die Zweifler, die Wankelmütigen des schwarz-gelben Lagers von seiner Person noch überzeugen wollte. Am Morgen des Wahltags hatte er fröhlich zu Protokoll gegeben, dass die Nacht "zu kurz" gewesen sei. Aber schon da strahlte er das Bewusstsein aus, es geschafft zu haben. Er sprach von "Zuversicht" und dem "Gelingen", der zehnte Präsident Deutschlands zu werden. Das erhoffte Gelingen hat sich eingestellt. Über das Wie wird man noch länger reden, das weiß er.

Wulff zieht nun ein ins Schloss Bellevue, und seine Wahl wird in die Geschichtsbücher eingehen. Allein, weil er das bisher jüngste deutsche Staatsoberhaupt ist. Er wird, wenn er seinen Ankündigungen Taten folgen lässt, das höchste Staatsamt deutlich anders definieren als seine Vorgänger: als eine Denkfabrik, von der Optimismus und Mut zu neuen Ideen für das Land ausgehen sollen. Von diesem Aufbruch war gestern noch nichts zu spüren. In seinen kurzen Feierabend ging Christian Wulff gestern wohl vorerst mit dem Bewusstsein, nur dritte Wahl zu sein.