Abendblatt-Autoren malen sich aus, wie es nach der Wahl zum Bundespräsidenten in Berlin weitergehen könnte - in zwei Szenarien.

... Joachim Gauck Präsident wird

Er löst in Berlin ein politisches Beben aus - in seinen Reden und in der schwarz-gelben Regierung

Beginnen wir diese Geschichte einer Sensation in den Stunden danach. Joachim Gauck ist von seiner Wahl zum Staatsoberhaupt völlig überrumpelt. Doch gerade jetzt muss er besonders präsidial sein - in einer Berliner Republik , durch die gerade ein politisches Erdbeben rollt. 40 Abweichler aus dem schwarz-gelben Lager haben in der Bundesversammlung Gauck gewählt , auch die Linken schlossen sich im dritten Wahlgang nahezu vereint dem Kandidaten der Opposition an. Gauck ist Bundespräsident. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel und Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin nehmen Glückwünsche entgegen. Später erklären sie, dass dieses Ereignis der Anfang vom Ende des schwarz-gelben Projektes sei.

Gaucks Erfolg verkauft die Opposition aber auch als Symbol für eine stärkere Beteiligung der Bürger an der Demokratie. Die Mehrheit der Deutschen hätte in einer Direktwahl auch für ihren Kandidaten gestimmt, betonen Gabriel und Trittin. Gauck, der Bürgerpräsident, es ist ihr politisches Sommermärchen. Kanzlerin Angela Merkel geht vor den Fernsehkameras in die Not-Offensive: Sie gratuliert Gauck herzlich und würdigt ihn als gute Wahl, der auch für die Union tragbar sei. Hinter den Kulissen herrscht Chaos. Die Fraktionen treffen sich zu Sondersitzungen, Merkel tagt mit den Koalitionsspitzen. Wer ist schuld an dem Debakel? Die CSU greift die FDP an, weil einige Liberale schon vor der geheimen Wahl ihre Präferenz für Gauck öffentlich gemacht hatten.

Auch Gauck geht in die Offensive: Er warnt all diejenigen, die mit seiner Wahl der Koalition einen Denkzettel verpassen wollten, vor Schadenfreude. Gauck will keine Gegenpolitik machen. Er will auch nicht eine Art Ersatzregierung spielen, die man in Krisen einwechselt wie einen Joker in den letzten Minuten eines Fußballspiels.

Gauck hat mit dem Sieg über Wulff einer Regierung im freien Fall scheinbar die rettende Reißleine genommen. Doch Merkel weiß mit der Niederlage umzugehen. Die Kanzlerin stellt im Bundestag die Vertrauensfrage. Und gewinnt. Ihre Botschaft ist eindeutig: "Ich habe meine Truppen auf Bundesebene im Griff, die Probleme existieren in den Ländern." Dort wurden bei der Präsidentenwahl die meisten Abweichler vermutet. Die Koalition macht weiter.

Im Sommer lernt die Republik ihren neuen Präsidenten kennen: Er gibt den Freiheitsbürger, den verantwortungsbewussten Citoyen. Und er verlangt diese Haltung auch von den Menschen in Deutschland. Seine Sprache findet die Melodie der Gesellschaft, die noch immer mit den Folgen der Finanzkrise kämpft. Zu Weihnachten erreicht seine Ansprache TV-Quoten wie sonst nur Fußballspiele zwischen Deutschland und England.

Das Schloss Bellevue haben die Berliner inzwischen liebevoll "Gauck-Behörde" getauft. Und Gaucks Leben folgt den Ansprüchen an das Präsidentenamt. Was er vor der Wahl erwogen hatte, macht er im Frühling wahr. Er heiratet, seine Lebensgefährtin Daniela Schadt wird offiziell zur "First Lady". Die Trauung ist in der Rostocker Marienkirche. Dort, wo der Pfarrer Gauck in der Wendezeit in Predigten zum Widerstand gegen das SED-Regime aufgerufen hatte.

Doch ein Jahr nach seiner Wahl erlebt Gauck das Obama-Syndrom. Er kann die Erwartungen an ihn als "Heilsbringer" nicht erfüllen. Die Menschen realisieren, dass Gauck keine politischen Lösungen anbietet. Und dass er sie ihnen auch niemals liefern wollte. Was bleibt, sind vor allem seine fulminanten Reden: und das gute Gefühl, das sie bei den Menschen hinterlassen.

...Christian Wulff Präsident wird

Er geht auf Rockkonzerte, kommuniziert über Facebook und baut Bellevue zur Denkfabrik um

Es ist der Nachmittag nach der Wahl. Die Häppchen auf der Fraktionsebene im Bundestag sind weitgehend weggeputzt. Die Wahlfrauen und Wahlmänner unterhalten sich längst wieder über Fußball und die Chancen der Deutschen gegen Argentinien im Viertelfinale der Weltmeisterschaft. Die Bundesversammlung war kurz und schmerzlos, für Christian Wulff ist alles glatt gelaufen. Im ersten Wahlgang hat er die absolute Mehrheit errungen: 613 Stimmen hat er erhalten, zehn weniger als das schwarz-gelbe Lager aufweist. Noch im Reichstagsgebäude kündigt der jüngste Präsident in der Geschichte des Landes an, die Themen Integration, Familie und Bildung zu seinen Leitmotiven der kommenden fünf Jahre zu machen.

Angela Merkel und Guido Westerwelle sprechen derweil von einem "Akt der Geschlossenheit" und versprechen, nun noch energischer als Reformmotor der Republik agieren zu wollen. In den Regierungsparteien macht sich Erleichterung breit. Hinter vorgehaltener Hand tuscheln einige Koalitionäre, wie blamiert man jetzt dastehen würde, wenn es erst im dritten Wahlgang geklappt hätte. Von einem Klima des Misstrauens, von einer Ohrfeige für die Kanzlerin würden sie wohl sprechen. Aber Gott sei Dank, das müssen sie nun nicht. FDP und Union verständigen sich zugleich auf eine Sprachregelung, wonach sich die Abweichler auf alle Regierungsparteien gleichermaßen verteilt haben sollen. Sie wollen endlich Frieden in der Koalition. Ohnehin wissen sie, dass der Herbst den Zusammenhalt erneut auf die Probe stellen wird. Die dicken Reformbrocken stehen dann an: die Reform der Bundeswehr, die Umsetzung der Sparpläne, die Verlängerung der Atomlaufzeiten, der harte Kampf um die Mehrwertsteuer.

Der politische Sommer wird auffallend ruhig, und Wulff selbst arbeitet akribisch an seiner "Denkfabrik", zu der er Schloss Bellevue machen will. Noch im Juli trifft er sich mit Joachim Gauck und seinem Vorgänger Horst Köhler zu intensiven Gesprächen. Beide wird er in sein Beratergremium berufen. Danach geht er mit seiner Frau Bettina, der mit 36 Jahren jüngsten First Lady aller Zeiten, auf Sommerreise durch die Republik. Man trifft das höchste Paar im Staat auch beim U2-Konzert mitten in der AWD-Arena in Hannover. Wulff, der ein Bürgerpräsident sein will, lässt sich das Ereignis trotz Bedenken seiner Sicherheitsleute nicht entgehen. Später kündigt er an, monatlich eine Videobotschaft ins Netz zu stellen. Sie wird mit seinem Facebook-Profil verlinkt. Wulff will damit auch ein Versprechen halten. "Facebook wird für mich als Bundespräsident eine Rolle spielen. Das halte ich für zwingend erforderlich", hatte er vor der Wahl schließlich angekündigt.

Die Regierungsarbeit verfolgt der neue Präsident schweigend - vorerst. Am 3. Oktober, zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit, hält Wulff seine erste große Rede. Sie wird zu einem Plädoyer gegen Parteienschelte. Im Winter einigt sich die Bundesregierung auf die Reform der Mehrwertsteuer und nimmt den Rabatt für Hotelübernachtungen zurück. In den Umfragen stabilisiert sich die Koalition. Wulff und Merkel treffen sich regelmäßig zum Gedankenaustausch. Die von Schwarz-Gelb vorgelegten Gesetze unterzeichnet Wulff ausnahmslos. In seiner ersten Weihnachtsansprache appelliert er an die Deutschen, Reformwillen zu zeigen - und geht selbst mit einem Beispiel voran. Er kündigt an, den Ehrensold zu reformieren. Bislang haben die Staatsoberhäupter ihr volles Gehalt auch als Ruheständler bezogen. Wulff reicht eine kleinere Pension.