Wie der letzte Kronprinz der Bundeskanzlerin die Macht verlor. Enttäuschte Flucht vor TV-Kameras statt ausgelassener Wahlparty.

Solch einen fürchterlichen Abend hat David McAllister wohl nie zuvor erlebt. Große Hoffnung, großer Kampf, Absturz. McAllister ist erst Wahlsieger, dann halber Wahlsieger, Verlierer, wieder Sieger. Noch mal Hoffnung. Aus. Am nächsten Morgen dann ein Klaps und ein paar aufmunternde Worte der Kanzlerin, das immerhin. Nach einem dramatischen Wahlabend verliert Merkels letzter Kronprinz die Macht und findet sich vorerst als Hinterbänkler im Landtag wieder.

Es ist 23.40 Uhr an diesem historischen Wahlabend, als die Landeswahlleiterin im Plenarsaal des Niedersächsischen Landtags endlich, endlich für Klarheit sorgt. SPD und Grüne, verkündete Ulrike Sachs, würden im nächsten Niedersächsischen Landtag eine Einstimmen-Mehrheit haben. CDU und FDP müssten den Weg in die Opposition antreten. Nebenan, im Alten Rathaus von Hannover, wo die SPD-Wahlparty lau begonnen hatte, knallen in diesem Moment die Korken. Im Besitos, einer spanischen Kneipe im Zentrum der Stadt, können die Grünen ihr spätes Glück kaum fassen. Sie hatten sich doch schon abgefunden mit fünf weiteren Jahren in der Opposition.

Im Landtag aber, im Büro des CDU-Fraktionschefs Björn Thümler, sitzt zu diesem Zeitpunkt David McAllister, der gerade abgewählte Ministerpräsident von Niedersachsen, im Kreise seiner engsten Vertrauten. Ehefrau Dunja, Fraktionschef Thümler, Christine Havighorst, die Leiterin der Staatskanzlei, Ulf Thiele, der Generalsekretär hier in Niedersachsen. Dazu ein paar Flaschen Rotwein, zwei Kisten Bier. Der Trupp bläst ordentlich Trübsal, fällt aber auch schon eine Entscheidung. David McAllister wird sich auch nach der Wahl eines neuen Ministerpräsidenten, voraussichtlich im Februar, nicht um den Posten des CDU-Fraktionschefs bewerben. Er wird Landesvorsitzender der Partei bleiben und nach der konstituierenden Sitzung des Niedersächsischen Landtags im Plenum weiter hinten Platz nehmen. Warteposition nach Totalabsturz. Denkbar knapp, unglücklich, aber weg vom Fenster.

Ein Wechsel nach Berlin kommt vorerst nicht infrage, Angela Merkel sieht derzeit weder Anlass noch Möglichkeit, ihren bisherigen Musterschüler in ihr Kabinett zu holen. Man werde McAllister zunächst einmal Gelegenheit geben, sich über seine Zukunft Gedanken zu machen, sagt sie am Montagmittag in Berlin. Danach werde man die Dinge weiter besprechen. Im Klartext: Bis zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten wird McAllister seine "Pflicht" als Regierungschef erfüllen. Danach, frühestens nach dem 19. Februar, wird man dann weitersehen.

Es könnte also Herbst werden, bis David McAllister, einer der letzten Hoffnungsträger seiner Partei in der Generation der 40-Jährigen, eventuell nach Berlin wechselt, sei es als Bundesminister, sei es als CDU-Generalsekretär, ein Amt, das Merkel ihm schon einmal angetragen hat. Bis dahin aber heißt die politische Zukunft McAllisters zunächst einmal Landtags-Hinterbank. Kein guter Platz für einen, dessen politische Karriere bisher nur eine Richtung kannte: aufwärts.

Dabei hatte der Sonntag ganz gut angefangen für McAllister. Ein Spaziergang zum Wahllokal bei bestem Wetter, ein Mittagessen mit der Familie, eine Fahrt nach Hannover. Die ersten Prognosen, die am Nachmittag eintrudeln, legen einen Wahlerfolg von Schwarz-Gelb zumindest nahe. Die FDP im Landtag feiert schon mal kräftig vor.

Die klandestine Leihstimmenkampagne der Niedersachsen-CDU für die Liberalen hatte offensichtlich etwas zu gut gezogen, die Union schnitt schon in der ersten Prognose deutlich schlechter ab, als es alle Meinungsforscher vorhergesagt hatten. Unterm Strich aber hielt die schwarz-gelbe Mehrheit zu diesem Zeitpunkt noch. In den Räumen von SPD und Grünen schaute man etwas sparsam. Eigentlich, so schien es, war das Rennen gelaufen.

McAllister traut dem Braten erst einmal nicht. Er verbarrikadiert sich in Hinterzimmern des Landtags, während die anderen Spitzenkandidaten Botschaften und Bildschirme okkupieren. Einen Auftritt in der "heute"-Sendung sagt der CDU-Mann kurzfristig ab. Die Institute rechnen jetzt mit einem Patt im neuen Parlament von Hannover.

Auf den Gängen des Landtags sieht man auch schon die ersten Unions-Opfer. Uwe Schünemann, der schneidige Innenminister, hat seinen Holzmindener Wahlkreis knapp verloren. Auch Kultusminister Bernd Althusmann kann sich nicht durchsetzen in Lüneburg. Es sind die beiden wichtigsten Minister in McAllisters Kabinett. Für den Fall einer Niederlage waren diese beiden die ersten Anwärter auf den Fraktionsvorsitz. Jetzt kommen sie noch nicht einmal in den Landtag.

In den Räumen der Union werden McAllisters Anhänger unruhig. Es sieht in den Hochrechnungen wieder so aus, als hätte Schwarz-Gelb diese Wahl wohl ganz knapp gewonnen. Sprechchöre. "Wir wollen den David sehen." Bei den Grünen nebenan gesteht man die knappe Niederlage schon ein. Auch die FDP, der erste Sieger dieses Abends, ist zum Feiern schon mal weitergezogen in ein nahes Altstadtlokal. Die schlechteste Variante für die Union ist zu diesem Zeitpunkt ein Gleichstand der Mandate zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Dann würde es zwar nichts mit einem erneuten Bündnis mit den Liberalen, aber als stärkste Fraktion hätte man immer noch das Heft des Handelns in der Hand. Also fasst McAllister sich ein Herz. In einer kurzen Ansprache spricht er von einem "Herzschlagfinale", das man gerade erlebe, er verspricht den versammelten Unionsanhängern aber auch: "Am Ende haben wir die Nase vorn." Die Zahlen geben das in diesem Moment nicht her. McAllister geht wieder auf Tauchstation.

Er denkt jetzt das erste Mal an Sigmar Gabriel, einen seiner Vorgänger. Auch der war nur für kurze Zeit Ministerpräsident in Niedersachsen gewesen und bei seiner ersten eigenen Wahl gescheitert. Gabriel war dann noch einmal Fraktionschef im Landtag geworden, kreuzunglücklich, für McAllister ein abschreckendes Beispiel. Auf den Landtagsfluren wundern sich mittlerweile Mitarbeiter der Landeswahlleiterin über die Überhang- und Ausgleichsmandate, mit denen die öffentlich-rechtlichen Sender in ihren Hochrechnungen hantieren. "Wir sehen gar keine Ausgleichsmandate", sagt ein Mitarbeiter. Er wird am Ende recht behalten.

Obwohl sich die schlechten Nachrichten mittlerweile häufen, entschließt sich McAllister zu einem Auftritt im ZDF-"heute journal". Er werde jetzt seinen "Führungsanspruch" anmelden, verkündet er auf dem Weg ins Studio. Es steht zu diesem Zeitpunkt zwar nach wie vor unentschieden zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb, aber eine Regierungsbildung ohne die CDU erscheint weiterhin unmöglich.

Um den Ministerpräsidenten herum wuselt ein junger Mann, der bisher nicht aufgefallen ist in McAllisters Entourage. Der Ex-TV-Journalist mit österreichischem Dialekt übt seinen Job in der Regel diskret aus, aber einen solch dramatischen Abend hat McAllisters Medientrainer auch noch nicht erlebt. "Nur live, keine Aufzeichnungen in so einer Situation", ist sein Kommando, als der Pressetrupp des Ministerpräsidenten der Aufzeichnung eines Gesprächs für die ARD zustimmen möchte. McAllister verzichtet also auf das geplante Off-Air-Interview. Stattdessen untermauert er live bei Phoenix seinen Führungsanspruch. Gerade ist eine neue ARD-Hochrechnung gekommen, die Schwarz-Gelb wieder vorn hat. Auf zur Wahlparty, es soll gefeiert werden. Es ist der einzige Moment dieses Abends, in dem McAllister aus sich herauskommt. "Mac is back", jubelt er beim Verlassen des Studios. Ein Irrtum.

Die Union hat für diesen Abend ein Veranstaltungscenter im Süden Hannovers angemietet, das Hangar 5. Eine Viertelstunde dauert die Fahrt - sie wird der Anfang vom Ende des Ministerpräsidenten McAllister. Dudelsack, Klatsch-Einmarsch. Eine kurze Ansprache. Dann macht sich McAllister für ein weiteres Interview bereit.

"Tagesthemen"-Zeit. Die Ereignisse überschlagen sich. Noch während McAllister auf dem Podium des Senders auf seinen Einsatz wartet, kurz gepudert wird, wedelt sein Kampagnenleiter mit seinem iPad. ARD und ZDF sehen plötzlich Rot-Grün vorn. Auf der großen TV-Leinwand oberhalb des improvisierten TV-Studios erklärt Jörg Schönenborn Rot-Grün zum definitiven Wahlsieger. Es ist der Moment, in dem McAllister seine Niederlage realisiert. Tapfer beantwortet er die Fragen der Moderatorin Caren Miosga. Durchhalteparolen. Abwarten des offiziellen Ergebnisses, was man so sagt, wenn die Felle davonschwimmen. McAllister irrt, verfolgt von Kameras auf der Suche nach einem Rückzugsort durch den Hangar 5. Lässt sich für einen winzigen Moment auf das Sofa im VIP-Bereich fallen, springt wieder auf, gibt das Signal. Es nervt, es ist laut, er fühlt sich fehl am Platz. Nichts wie weg hier. Flucht.

Überstürzt, ohne Abschied verlässt der Ministerpräsident die CDU-Wahlparty. In hektischer Kolonnenfahrt geht es zurück in den Landtag, wo die TV-Studios abgebaut werden. Geisterstunde im Parlament. Die Union, die gerade ihre Macht und ihren Ministerpräsidenten verloren hat, versteckt sich im Büro des Fraktionsvorsitzenden. McAllister sinkt in einen Konferenzstuhl.

Der Morgen danach. David McAllister kommt viel zu spät zur CDU-Präsidiumssitzung. Statt wie geplant den ICE um 6.31 Uhr hat er seinen Dienstwagen gewählt für die frühe Fahrt nach Berlin. Auf der Autobahn geht es nur langsam voran. Schnee, Stau, Müdigkeit. Erst nach vier Stunden trifft der geschlagene Trupp aus Niedersachsen am Konrad-Adenauer-Haus ein. Tiefgarage, Fahrstuhl rauf; ein bisschen Applaus, ein paar aufmunternde Worte.

Ohne Schlaf, ein Glas Rotwein hatte er sich noch gegönnt nachts um drei. Tapfer erstattet er dem Gremium seinen Bericht. Am Ende seines traurigen Vortrags, so berichten es Teilnehmer später, kann McAllister, der brutal gestürzte Hoffnungsträger aus Niedersachsen, seine Tränen nicht mehr zurückhalten.