Experten kritisieren, dass entlassene Straftäter auf dem Weg in die Freiheit zu sehr alleingelassen werden. Die Politik ist am Zug.

Zum ersten Mal haben sie ihn wegen Körperverletzung und Hehlerei drangekriegt. Peter Zimmermann (Name geändert) war 21, als er in den Knast musste. Zwei Jahre saß er, dann durfte er raus. Oder wie er sagt: "Ich wurde vor die Tür gesetzt. Und tschüs."

Also machte Zimmermann weiter wie zuvor. Die alten Kumpels waren seine Familie, sie gaben ihm Halt; es war leicht, das alte Leben zu leben. Zimmermann dealte mit Drogen, konsumierte selbst, irgendwann kam die Polizei. Er musste wieder ins Gefängnis. Betreut wurde er dort nicht. Pro Halbjahr gab es ein Gespräch mit der Anstaltsleitung. Man sagte ihm: "Erwarten Sie nichts." Zimmermann ritzte sich den Arm auf, leckte das Blut ab und sagte den Aufsehern, dass er Magenbluten habe. Im Krankenhaus bewachten ihn nur zwei Pfleger. Zimmermann floh, wurde wieder gefangen, entlassen, dealte, nahm Drogen, fuhr wieder ein. Zehneinhalb Jahre verbrachte er in niedersächsischen und Hamburger Gefängnissen. Klar, schuld war er selbst. Aber Zimmermann, heute 47 Jahre alt, sagt, dass man ihm hätte helfen können. Indem er auf das Leben da draußen vorbereitet worden wäre.

1724 Menschen wurden im vergangenen Jahr bis November aus dem Hamburger Strafvollzug entlassen. Entlassen - in die Freiheit. Aber häufig alleingelassen mit ihren Problemen. Viele Häftlinge landen schnell wieder im kriminellen Milieu.

Die Gesellschaft interessiert sich nicht dafür, was in den fünf Hamburger Gefängnissen geschieht. Sind die Verbrecher erst mal hinter Gittern, erlischt das Interesse - und erwacht erst wieder, wenn Gefangene entlassen werden. Wer will schon neben einem Straftäter wohnen? Wer will schon einen Ex-Knacki als Arbeitskollegen haben? Wie emotional die Hamburger Bürger plötzlich werden können, zeigte sich, als entlassene Sicherungsverwahrte nach Jenfeld und Moorburg zogen und die Bürger dagegen protestierten.

Die Angst ist berechtigt. Göttinger Kriminologen haben im Auftrag der Bundesregierung eine deutschlandweite Rückfalluntersuchung gemacht. Ergebnis: Jeder dritte Straftäter wird innerhalb von drei Jahren rückfällig.

Laut Bernd Maelicke, Kriminologe von der Uni Lüneburg, ist die Rückfallgefahr gerade im ersten halben Jahr nach der Entlassung am höchsten. Er sagt: "Die Gefangenen werden nicht auf das Leben in Freiheit vorbereitet. Sie wissen in der Regel nicht, wo sie wohnen und arbeiten sollen. Deshalb nehmen fast alle wieder Kontakt zu ihrem alten kriminellen Leben auf."

Straftäter müssen intensiver auf ihrem Weg aus dem Gefängnis in die Freiheit betreut werden - da sind sich alle Beteiligten in Hamburg einig. Übergangsmanagement nennt sich dieser Vorgang. Die Stadt hat Jura-Professor Bernd Maelicke und elf weitere Experten aus Vereinen, Universitäten, Behörden, der Staatsanwaltschaft schon im Jahr 2009 damit beauftragt, ein Konzept dafür zu schreiben. Und Maelicke lieferte: Am 8. Februar 2010 legte er den Abschlussbericht der Fachkommission mit über 100 Vorschlägen für die "Optimierung der stationären und ambulanten Resozialisierung" vor. Laut seinem Konzept sollen Sozialarbeiter sechs Monate vor der Entlassung Kontakt zum Häftling aufnehmen. Eine Wohnung soll gesucht werden, ein Job oder eine Weiterbildung. Auch soll geklärt werden, ob der Entlassene in die Schuldnerberatung muss oder in eine Drogentherapie. Der Sozialarbeiter soll den Häftling nach der Entlassung mindestens ein Jahr lang begleiten.

Doch mit der politischen Umsetzung gab es Probleme. Im Frühjahr 2010 regierte noch die schwarz-grüne Koalition von Ole von Beust. Die Koalitionspartner konnten sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Maelicke schöpfte Hoffnung, als 2011 Olaf Scholz die Bürgerschaftswahl gewann. Die SPD konnte durch die absolute Mehrheit alle Ressorts besetzen. In sein Arbeitsprogramm schrieb der Senat: "Vollzug und Wiedereingliederung müssen daher besser als bisher miteinander verzahnt werden." Bis Ende 2011 sollte ein Konzept vorliegen, kündigte der Senat an. Maelicke, selbst Sozialdemokrat, wähnte sich am Ziel.

Doch passiert ist: nichts.

Von den 1724 Straftätern, die im vergangenen Jahr entlassen wurden, hatten 1300 ihre Strafe bis zum letzten Tag abgesessen. Die sogenannten Endstraftäter bekommen in der Regel keine Betreuer, die sie auf dem Weg in die Freiheit unterstützen. Und das, obwohl gerade sie eine schlechte Prognose für die Resozialisierung haben.

Lediglich die Straftäter, die auf Bewährung entlassen werden, bekommen einen Bewährungshelfer. 34 Bewährungshelfer hat die Hansestadt Hamburg. Im Durchschnitt betreut ein Bewährungshelfer rund 100 "Probanden". "Das ist die schlechteste Quote bundesweit", sagt Maelicke. Wird ein Häftling entlassen, müsse dieser bis zu sechs Wochen auf den ersten Termin beim Bewährungshelfer warten. Das ist eine gefährlich lange Zeit.

Es gibt zwar eine Beratungsstelle für Haftentlassene und Sprechstunden in den Hamburger Justizvollzugsanstalten, die allen Häftlingen offensteht. Doch die Fachkommission kritisierte schon in ihrem Abschlussbericht, die Haftentlassungshilfe sei "nicht durchgehend und verbindlich organisiert". Es gebe kein "durchgehendes strukturiertes Beratungs- und Unterstützungsangebot, welches sich vor und nach der Entlassung auszeichnet". Experten haben einen Namen für die orientierungslose Zeit der freigelassenen Straftäter: Entlassungsloch.

Jürgen Lenz (Name geändert) musste mit 35 Jahren zum ersten Mal in den Knast. Wegen Drogen, wegen Schwarzfahrens. Als er Freigang hatte, haute er ab, wurde geschnappt, irgendwann entlassen. Der Hansaplatz, das Drogenmilieu, zog ihn immer wieder an, wie ein Zuhause. Nur dass das Gefängnis für ihn ebenfalls ein Zuhause wurde, wenn er wieder gegen Gesetze verstoßen hatte. "Es ist besser für Sie, wenn Sie hierbleiben", sagten die Vollzugsbeamten. Jürgen Lenz hatte panische Angst davor, für immer hinter Gittern bleiben zu müssen. Einmal Knast, immer Knast. "Ich war auf mich selbst gestellt", sagt der heute 49-Jährige. Neunmal musste er ins Gefängnis. Weil er sich auf dem Weg in die Freiheit alleine fühlte.

Bernd Maelicke kritisiert, dass das fehlende Übergangsmanagement schwere Folgen hat: "Die Sicherheit der Bürger ist durch diesen Konstruktionsfehler im System gefährdet."

Geld für eine Reform des Systems sei vorhanden. Die Zahl der Gefangenen in Hamburgs Gefängnissen ist in den vergangenen zehn Jahren von über 3000 auf jetzt 1700 zurückgegangen. Die Zahl der Mitarbeiter im Hamburger Strafvollzug ist hingegen stabil geblieben. Bernd Maelicke fordert, dass Überkapazitäten dem Übergangsmanagement zugutekommen. Doch stattdessen will der Senat in den kommenden drei Jahren 200 Stellen im Strafvollzug abbauen.

Hinzu kommt, dass für die Betreuung der Haftentlassenen in Hamburg drei Instanzen zuständig sind: Den Strafvollzug regelt die Justizbehörde. Die sozialen Dienste der Justiz, also unter anderem die Bewährungshilfe, sind am Bezirksamt Eimsbüttel angesiedelt. Die Aufsicht über die sozialen Dienste der Justiz hat die Sozialbehörde.

Viel zu kompliziert, kritisiert Maelicke. Eine Behörde, nämlich die Justizbehörde, solle für den gesamten Bereich zuständig sein.

Das Thema ist für die Hamburger Politik auch deshalb nicht einfach, weil es verseucht ist. "Hamburger Politiker wie Ex-Justizsenator Roger Kusch haben in den vergangenen Jahren damit gepunktet, dass sie härtere und längere Strafen gefordert haben", sagt der Hamburger Strafrechtler Bernd-Rüdeger Sonnen, der ebenfalls in der Kommission von Bernd Maelicke saß. Da passe Verständnis für die Belange der Häftlinge nicht ins Konzept. Dabei müsse die Gesellschaft ein Interesse an einem begleiteten Übergang in die Freiheit haben. "Je später eine Betreuung ansetzt, desto höher ist die Rückfallgefahr."

Sonnen fordert deshalb mehr Bewährungsstrafen. Häftlinge, die auf Bewährung entlassen werden, wandern seltener wieder ins Gefängnis als diejenigen, die ihre Strafe bis zum Schluss abbrummen. "Eine Wohnung suchen, Bewerbungsgespräche führen - das kann man nicht innerhalb der Gefängnisse machen", sagt der Jura-Professor.

Sogar aus Kostengründen könnte sich die Sache lohnen: Ein Haftplatz kostet in Hamburg pro Tag 151,12 Euro. Wer draußen ist, kostet weniger.

Was sagt der Senat zu den Forderungen? "Im Rahmen der personellen Kapazitäten strebt der Senat eine noch stärkere und frühzeitigere Zusammenarbeit der beteiligten staatlichen und privaten Stellen im Bereich der Straffälligenhilfe an", heißt es in einer Erklärung der Justizbehörde, die mit der Sozialbehörde abgestimmt wurde. Wann das sein wird, wie viel der Senat investieren will, wollen die Häuser von Justizsenatorin Jana Schiedek und Sozialsenator Detlef Scheele nicht mitteilen. Dass drei Instanzen für die Straffälligenhilfe zuständig sind, soll sich aber nicht ändern.

Aus den beiden Behörden ist jedoch auch zu hören, dass sich die Beteiligten einig seien, dass die Situation untragbar ist. Die Bewährungshilfe soll durch zusätzliche Sozialpädagogen verstärkt werden. Die Stadt möchte gerne mehr mit freien Trägern zusammenarbeiten, die von den Häftlingen deshalb mehr akzeptiert werden, weil sie keine staatlichen Einrichtungen sind. Eine "Fachstelle für Übergangsmanagement" soll gegründet werden, die Gefangene auch nach der Entlassung in der Übergangszeit individuell unterstützt. Das Problem ist nur: Alle Maßnahmen umzusetzen kostet Millionen. Und, so heißt es aus den Behörden: "Wir müssen noch zusätzliche Pflichtaufgaben stemmen. Es scheitert bisher am Geld."

Die Straftäter Peter Zimmermann und Jürgen Lenz sind schließlich beim Hamburger Fürsorgeverein gelandet, der in Altona ein Wohnheim für Haftentlassene betreibt. 21 Ex-Sträflinge können im Heim leben, die Entlassenen werden von Sozialarbeitern, Ärzten, Schuldenberatern und Suchtberatern betreut. 18 Monate können die ehemaligen Häftlinge bleiben, die meisten sind schon nach 15 Monaten weg. Weil sie eine Wohnung gefunden haben, einen Job, eine Perspektive.

Irgendjemand hatte Zimmermann und Lenz die Nummer gegeben. Zimmermann nimmt mittlerweile keine Drogen mehr. Er ist arbeitslos, aber er führt ein Leben fernab seiner kriminellen Vergangenheit. Lenz hat einen Job als Hausmeister in einer Kirchengemeinde gefunden. Beide sind der Meinung, dass die Stadt Hamburg nichts für ihre Resozialisierung getan hat. Beide sind der Meinung, dass Hamburg mehr tun muss für die Gefangenen.

Der Hamburger Fürsorgeverein hat eine eigene Anlaufstelle für Haftentlassene eingerichtet. Weil die Stadt nichts getan hat. Die Macher des Vereins sind davon überzeugt, dass sie die Haftdauer einzelner Insassen durch gutes Übergangsmanagement halbieren können. Zwölf Ehrenamtliche kümmern sich - pensionierte Lehrer, Richter, Anwälte, aber auch Studenten und Geschäftsleute. Sie holen Häftlinge am Gefängnis ab, weil in vielen Fällen niemand auf sie warten würde. Die Ehrenamtlichen halten auch Kontakt in der ersten Zeit. Es ist alles ein wenig provisorisch, aber immerhin passiert etwas.

Das millionenschwere Konzept des Senats lässt weiter auf sich warten. Jetzt ist die SPD-Fraktion tätig geworden. Die Abgeordneten wollen die Anlaufstelle des Fürsorgevereins, die mehr ein Symbol als eine bedarfsgerechte Einrichtung ist, unterstützen. Mit 6000 Euro pro Jahr.