Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt gewinnen die Urwahl für die Bundestagswahl. Zukunft von Parteichefin Claudia Roth offen.

Berlin. Es ist einer der berühmtesten Sätze in der Geschichte der Bundesrepublik: "Wir wollen mehr Demokratie wagen", hatte Willy Brandt im Oktober 1969 zu Beginn seiner ersten Kanzlerschaft gesagt. Ein großes Wort, um mehr Mitsprache und Beteiligung in die Gesellschaft zu tragen. Und bis heute gern und viel zitiert.

"Wir haben mehr Demokratie gewagt", sagte auch Steffi Lemke, politische Geschäftsführerin der Grünen am Sonnabendmorgen, als sie in einer kalten Mehrzweckhalle im Berliner Stadtteil Wedding vor den Kameras steht. Wochenlang hatten die rund 60 000 Grünen-Mitglieder Zeit, in einer Urwahl die beiden Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013 zu bestimmen, und sie haben sich entschieden: Mit 25 222 Stimmen wollte der größte Teil der Basis Fraktionschef Jürgen Trittin, dahinter folgt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt mit 16 589 Stimmen. Es ist ein Ergebnis, das nicht nur Beobachter überrascht, sondern auch die Partei selbst.

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen war prognostiziert worden, vor allem zwischen Parteichefin Claudia Roth und Fraktionschefin Renate Künast. Göring-Eckardt galt hingegen lange als Außenseiterin. Die Favoritenrolle Trittins stand für viele allerdings schon im Vorfeld fest. Rund 35 000 Parteimitglieder hatten sich an der Abstimmung beteiligt. Bei zwei Kreuzen, die man pro Wahlzettel verteilen konnte, kam Künast auf 13 522, Roth hingegen nur auf 9180 Stimmen. Ein bitteres Ergebnis für die Parteivorsitzende, die die Urwahl als Erste ins Spiel gebracht hatte.

Am kommenden Wochenende, wenn die Grünen sich zu ihrem Parteitag in Hannover treffen, will Roth sich eigentlich erneut als Chefin zur Wahl stellen. Ob sich an diesen Plänen nach der krachenden Niederlage in der Urwahl etwas geändert hat, ließ sie offen. Über ihre Seite im sozialen Netzwerk Facebook ließ sie kurz nach der Bekanntgabe der Urwahl-Ergebnisse verkünden: "Ich gratuliere von Herzen Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt. Das ist Demokratie!"

Am Wochenende war Roth für die Öffentlichkeit abgetaucht, hatte sich aber mit Mitarbeitern getroffen und viel telefoniert, wie es aus Parteikreisen hieß. Auch denke sie über einen Rückzug nach. Viele Grüne forderten sie allerdings zum Bleiben auf. "Claudia kann nerven, und deshalb ist sie für diese Partei so unverzichtbar", sagte Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck. Göring-Eckardt sagte "Bild am Sonntag": "Ich wünsche mir, dass Claudia Roth ein gutes Ergebnis beim Parteitag bekommt." Heute früh will sich Claudia Roth öffentlich erklären.

Die ebenfalls unterlegene Renate Künast kündigte an, ihre politische Karriere "mit aller Kraft" fortsetzen zu wollen. Entschieden worden sei nur über das Wahlkampf-Führungsduo, sagte sie der "Leipziger Volkszeitung". Die Partei müsse jetzt jedoch ihren Standort in der linken Mitte behalten, mahnte die Grünen-Politikerin. "Wir machen als Partei Angebote für Wähler in der Mitte und auf der Linken."

Diese Mahnung kommt nicht von ungefähr. Mit Göring-Eckardt zieht eine Frau aus dem Realo-Lager ins Spitzenkandidaten-Duo ein. Im Verbund mit Trittin wird beiden zugerechnet, am ehesten der CDU und auch der SPD Stimmen abnehmen zu können. Göring-Eckardt und Trittin stehen für einen ähnlich pragmatischen Kurs, den auch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der neue Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn gefahren sind. "Die Wahlen in Baden-Württemberg haben deutlich gemacht, dass die bürgerliche Mitte in Deutschland eine bessere Gesellschaft will", sagt auch Göring-Eckardt. Selbst der Parteilinke Trittin, 58, betont: Man lasse nicht zu, "dass der Citoyen usurpiert wird von der politischen Rechten", dass er das Bürgertum also nicht den Konservativen überlassen will.

Vor allem Göring-Eckardt wird ein besonderes Bindungspotenzial zugeschrieben. Als Präses der Synode der Evangelischen Kirche könnte die 46-jährige Thüringerin auch im christlich gesinnten Lager punkten, als Ostdeutsche könnte sie den in den neuen Ländern bislang eher schwachen Grünen einen Gesicht geben. Ihr Kirchenamt lässt Göring-Eckardt bis nach der Bundestagswahl nun allerdings ruhen. CSU, FDP und Linkspartei forderten sie nun auf, auch ihr Amt im Bundestagspräsidium aufzugeben. Das lehnt sie allerdings ab.

Auch bei den Hamburger Grünen ist man mit den neuen Spitzenkandidaten zufrieden. "Mit Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt haben wir ein gutes, ausgewogenes Spitzenduo", sagte der Hamburger Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin dem Abendblatt. "Zusammen sprechen beide eine breite Wählerklientel an, wir haben jetzt ein frisches Gesicht und ein erfahrenes Gesicht, die uns im Bundestagswahlkampf repräsentieren." Der einzige Hamburger Kandidat bei der Urwahl, Friedrich Wilhelm Merck, erreichte mit 160 Stimmen Platz zehn von 15 Kandidaten.

Das große Rätsel bleibt zunächst also die Zukunft Roths. Entweder bricht kurz nach der Urwahl eine Führungskrise aus - oder die Parteichefin berappelt sich. Die Grünen haben mehr Demokratie gewagt. Doch wie bei jedem Wagnis gab es auch hier ein Risiko.