Aufbrechen sollten die Sozialdemokraten beim Parteitag in Darmstadt. Einen neuen Chef hat sie jetzt, aber die Wunden der Vergangenheit heilen nicht.

Darmstadt. Ein Blumenstrauß noch für die scheidende Chefin, so viel Zeit muss sein, "ich bitte die Andrea, jetzt mal zum Thorsten auf die Bühne zu kommen", sagt Michael Siebel aus dem Vorstand der Hessen-SPD. Aber Andrea Ypsilanti ist erstmal nicht auffindbar, also nimmt der designierte Landesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel die Blumen und sucht die Genossin. Die Ankunft des Hoffnungsträgers im Spitzenamt der hessischen Sozialdemokraten und der Abschied von der gescheiterten Fast-Ministerpräsidentin, das ist die große Geschichte des Landesparteitags in Darmstadt. Ypsilanti steht dann doch noch auf der Bühne, Schäfer-Gümbel nimmt sie in den Arm. Und dann geht Ypsilanti.

Es ist viel von der Vergangenheit geredet worden in Darmstadt. Auf einem Parteitag, der die personellen Weichen der schicksalsgebeutelten Partei stellen sollte. Zu entscheiden war über die Landesliste der SPD Hessen für die Bundestagswahl im September und über den neuen Kopf der Partei. Das gelang: 89 Prozent der Stimmen hat Schäfer-Gümbel, der Verlegensheitskandidat der verlorenen Landtagswahl vom 28. Januar, bekommen. Der Fraktionschef im Wiesbadener Landtag ist der neue Vorsitzende einer Partei, aber vor die sehnsüchtig erwartete Zukunft haben die Delegierten die Austreibung der Vergangenheit gestellt. Die Versammlung der Sozialdemokraten wurde zur Veranstaltung einer Partei, die auf der Suche ist nach sich selbst.

Dass die jüngste Geschichte mit dem missglückten Griff nach der Macht längst nicht vergessen ist, zeigte sich in der Abschiedsrede Ypsilantis. Mit lang anhaltendem Applaus wurde sie begrüßt, mit lang anhaltendem Groll ist die abermals vorgetragene Abrechnung mit ihren Gegnern zu erklären. "Gewissensentscheidungen dürfen nicht einseitig und willkürlich getroffen werden", rief sie den Delegierten zu, und jeder wusste, wer gemeint war. Die Abweichler Jürgen Walter, Silke Tesche und Carmen Everts, die sie im November 2008 beim zweiten Versuch, sich zur von der Linkspartei tolerierten Ministerpräsidentin wählen zu lassen, hatten fallen lassen. Ypsilanti verteidigte erneut ihre Pläne und rechnete mit dem Trio ab: "Die Einzelperson darf nicht mehr gelten als der Mehrheitsbeschluss einer Partei", und weiter: "Man muss nicht hinnehmen, dass sich Täter zu Opfern stilisieren oder gar zu Helden verklärt werden." Wer zum Thema "Wortbruch" etwas Neues von Ypsilanti hören wollte, wurde enttäuscht. "Es geht nicht um Wortbruch, es geht um den Konflikt eines Programms, das wahlpolitisch erfolgreich war." Dass sie ein "mediales Kesseltreiben" insbesondere gegen sie beklagte, fand den Applaus der Delegierten. Noch mehr Applaus gab es nach ihrem letzten Gruß als Parteivorsitzende, den sie unter Tränen beendete: "Es ist eine Lebensaufgabe, Sozialdemokratin zu sein. So verstehe ich mich, und so bleibe ich - eine von euch."

Anschließend nahm Schäfer-Gümbel sie in den Arm, nicht zum einzigen Mal an diesem Landesparteitag. Es war sein Tag, und doch gehört es zur Inszenierung des SPD-Dramas in Hessen, dass vor der Ankunft des Retters die gefallene Heldin ihren Auftritt bekommt. Fünf Minuten stehenden Applauses waren Ypsilanti gegönnt, fünf Minuten, in denen sich die hessische SPD-Gemeinde in der neuen Kongresshalle Darmstadts einig war: Hier geht eine Frau, die viel ertragen musste in der letzten Zeit. Mit der Einigkeit war es dann schnell vorbei. Zu tief klaffen noch die Wunden. Als der Delegierte Gerd Körner die Partei aufforderte, die Parteiausschlussverfahren gegen die Abweichler auszusetzen, ertönten Buhrufe und Pfiffe. Der "Dolchstoß" der Abweichler schmerzt die Sozialdemokraten immer noch, und so geben sie sich unversöhnlich, da nützen all die Beschwörungen, die Zukunft anzupacken, die Selbstbespiegelungen sein zu lassen und wieder pragmatisch politische Arbeit zu machen, nichts.

Als Fraktionschef Thorsten Schäfer-Gümbel ans Rednerpult tritt, erwarten die Delegierten den Befreiungsschlag. Schäfer-Gümbel, als talentierter Redner bekannt, der durchaus einen Saal zum Kochen bringen kann, trägt kein Sakko. Er sieht noch jünger aus, als er mit seinen 39 Jahren ohnehin ist, und er wirkt wie jemand, der gerade dem mutmaßlich größten Tag seines Lebens mit angemessener Bescheidenheit begegnen will. Nicht 80 Minuten wie beim letzten Parteitag wolle er reden, sagt er. Ein Versprechen, das auch dem gedrängten Zeitplan geschuldet war.

Als Schäfer-Gümbel zu reden beginnt, wird deutlich, dass die Ereignisse um den gescheiterten Regierungswechsel schon zum mythischen Ereignis geworden sind. Schäfer-Gümbel zitiert die Ereignisse wie aus dem Geschichtsbuch und erinnert an den Tag, als er ans Ruder kam. "Ich würde es wieder so machen wie vor 121 Tagen", sagt er. Am 8. November sprang er für Ypsilanti ein, wurde über Nacht Spitzenkandidat bei den nötig gewordenen Neuwahlen. Jetzt steht er vor den hessischen Genossen und spricht vom schlechtesten Ergebnis bei einer Landtagswahl seit Gründung der Bundesrepublik. So endete die aufregendste und aufreibendste Zeit in der Geschichte der Hessen-SPD: Mit einer Niederlage gegen den Mann, den sie so gerne ablösen wollten. Roland Koch aber spielt kaum eine Rolle bei der Rede Schäfer-Gümbels. "Selbstkritik und Aufbruch" ist das Motto des Landesparteitages, und Selbstkritik übt Schäfer-Gümbel zunächst reichlich. Er legt den Finger in die Wunde. Dass die Menschen das Vertrauen in die hessische SPD verloren hätten, sei einzig ihre eigene Schuld - und nicht etwa die der SPD auf Bundesebene. Weil ein Teil der Wähler eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei nicht wollte oder nicht verstehen konnte, dass man vor der Wahl eine solche Koalition ausschloss und sie dann anstrebte, habe man das Vertrauen der Wähler verloren. So steht es auch im Leitantrag des Parteitages. Betitelt ist er optimistisch "Unser Weg zur Regierungsverantwortung 2014", Schäfer-Gümbel will schnell das Vertrauen zurückgewinnen - "wir sind auf einem Langstreckenlauf zurück zur Macht". Erst beim Blick in die Zukunft nimmt Schäfer-Gümbel Fahrt auf, der zustimmende Applaus schlägt sich in seinem guten Wahlergebnis nieder. Er bekommt 298 von 330 gültigen Stimmen, und auch seine Kandidaten bringt er durch: Die Kommunalpolitikerin Gisela Stang wird neue stellvertretende Landesvorsitzende, das Bundestagsmitglied Michael Roth, er zählt zur Parteilinken, neuer Generalsekretär. Eine Personalpolitik, die Kritiker als Fortsetzung des Systems "Ypsilanti" bezeichnen.

Schäfer-Gümbel waren derlei Äußerungen egal. Gut gelaunt gratulierte er den Kandidaten, auch wenn längst nicht alle Lust auf Harmonie hatten. Streit gab wegen der Landesliste für die Bundestagswahl. Die beiden hessischen SPD-Minister in Berlin, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Brigitte Zypries, wurden vorgestuft. Mit Folgen unter anderem für die Bundestagsabgeordnete Nina Hauer aus der Wetterau, sie war durch den Sprung von Zypries vom chancenreichen Platz 8 auf den wenig aussichtsreichen Platz 11 abgerutscht, den nächsten Platz für eine Frau aus Südhessen. Beim Parteitag versuchte Hauer, die dem rechten Netzwerker-Flügel angehört, die Linke Uta Zapf von Platz 8 zu verdrängen. Sie unterlag mit 127 zu 183 Stimmen.

Und Erich Pipa, Landrat des Main-Kinzig-Kreises, legte seine Sicht der Dinge dar: dass die SPD die Wahl im Januar nur verloren habe, weil die Partei ein Wahlversprechen gebrochen habe Er widersprach damit Ypsilanti und dem Leitantrag des Landesvorstands. Darin wehrt sich der SPD-Landesverband dagegen, das Wahlergebnis auf die Frage des Umgangs mit der Linkspartei zu "reduzieren".

Da ist sie wieder, die Vergangenheit, die der neue Vorsitzende möglichst schnell hinter sich lassen will. Während seine Vorgängerin das ein oder andere Autogramm gibt, posiert Thorsten Schäfer-Gümbel fürs Foto. Jetzt trägt er sein Sakko.