Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) über die Rente mit 67, ihr Modell gegen Altersarmut und lebensfremde Top-Manager in Deutschland.

Hamburger Abendblatt: Frau von der Leyen, haben Sie sich schon bei Horst Seehofer bedankt? Immerhin hat der CSU-Chef Ihrer Regierungskoalition mit seiner Kritik an der Rente mit 67 zum Start in die Reform und ins neue Jahr den ersten Krach beschert.

Ursula von der Leyen: Ich finde es richtig, dass wir jetzt eine breite Debatte über die Rente mit 67 haben. Vor allem, dass wir über die Schritte bis zur vollen Rente mit 67 im Jahr 2029 sprechen: Wie funktioniert das Arbeiten bis 67?

Abendblatt: Aber wie ist es um die Zukunft dieser Reform bestellt, wenn DGB-Chef Michael Sommer jetzt fordert, dass Seehofer sich für ein Aussetzen der Rente mit 67 einsetzt?

Von der Leyen: Diese Reform wird ja aus gutem Grund gemacht, weil zwei Faktoren in der demografischen Entwicklung zusammenkommen: Wir leben länger, das ist schön. Und wir beziehen sehr viel länger Rente, im Schnitt acht Jahre länger als noch zu Adenauers Zeiten. Und zweitens, das ist weniger schön, es sind immer weniger Kinder geboren werden. Es fehlen also Beitragszahler, die die Rente Monat für Monat erarbeiten. Damit wächst ein Ungleichgewicht. Um den Generationenvertrag auch künftig zu erfüllen, haben wir nur drei Lösungsmöglichkeiten: Entweder die Rente spürbar kürzen, das ist die schlechteste Variante. Oder zweitens die Beiträge für die Jungen drastisch erhöhen. Das belastet die Arbeitnehmer und vernichtet Arbeitsplätze. Die dritte Lösung, und die favorisiere ich, bedeutet: Von den dann zehn gewonnenen Lebensjahren investieren wir zwei in Arbeit und erhöhen die Lebensarbeitszeit über einen Zeitraum von 20 Jahren schrittweise auf 67.

Abendblatt: Welchen Sinn macht die Rente mit 67, wenn immer mehr Arbeiter schon frühzeitig in Rente gehen, selbst wenn sie dabei finanzielle Einbußen hinnehmen müssen?

Von der Leyen: In den meisten Fällen sind das typischerweise Ehepaare. Wenn er in Rente geht, möchte sie auch. Sie kalkulieren, ob die gemeinsame Rente reicht. Akuell überlegen wir, wie man den Übergang in die Rente erleichtern kann für die, die nicht mehr können. Da denken wir an eine Kombirente, also eine Teilrente, die mit Teilzeitarbeit kombiniert werden kann. Dann kann man bereits vor dem offiziellen Renteneintrittsalter im Job kürzer treten, ohne dass man gleich empfindliche Abzüge in Kauf nehmen muss.

Abendblatt: Warum kann man das nicht mit Altersteilzeit regeln?

Von der Leyen: Die Altersteilzeit ist aus gutem Grund abgeschafft worden. Sie ist fast immer als Blockmodell genommen worden. Das fatale Signal war: Wer über 55 ist, gehört zum alten Eisen, gehört aussortiert. Die Grundhaltung zumal bei einem steigenden Fachkräftebedarf muss doch sein: Jetzt geht es um den Silberschatz des Alters. Lebenserfahrung und Betriebswissen spielen eine große Rolle. Ältere möglichst lange und effektiv in die Arbeitsprozesse einzubinden, das ist die neue Herausforderung für die Wirtschaft.

Abendblatt: Mit welchen Sanktionen kann man Unternehmen drängen, ältere Mitarbeiter im Job zu halten?

Von der Leyen: Der mächtigste Zwang ist doch der Fachkräftemangel. Weil zu wenige Junge nachkommen, wird die erwerbsfähige Bevölkerung in 15 Jahren um mehr als sechs Millionen Menschen schrumpfen. Anders als noch vor Jahren sind Firmen heute schon bereit, Jugendliche mit Defiziten zu nehmen und auszubilden. Sie merken, dass sich die Investition auszahlt. Dieselbe Erfahrung müssen Unternehmen mit Älteren machen. Keine zehn Prozent der über 55-Jährigen bekommen heute Weiterbildung. Das muss sich ebenso ändern, wie die Einstellung gegenüber psychischen Belastungen. Durch die schnelle Taktung im Job, durch Monotonie, stetige Rufbereitschaft und fließende Übergänge zwischen Arbeit und Freizeit sind psychische Erkrankungen die Hauptursache bei Frühverrentungen geworden. Und es sind gerade die Motivierten, die ausbrennen. Daraus müssen die Unternehmen lernen.

Abendblatt: Reicht die Rente mit 67 schon, eine drohende Altersarmut in den Griff bekommen?

Von der Leyen: Das reicht nicht als einziger Baustein. Drohende Altersarmut ist auch abhängig davon, wie durchgängig gearbeitet worden ist und ob die Menschen zusätzlich vorgesorgt haben. Es wird für Geringverdiener wichtiger werden, eine Riester-Rente oder Betriebsrenten abzuschließen. Deshalb planen wir die Zuschussrente. Sie macht deutlich: Wenn du Jahrzehnte gearbeitet oder Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt und gleichzeitig privat vorgesorgt hast, dann honorieren wir diese Lebensleitung und stocken Deine Rente auf.

Abendblatt: Aber Arbeitgeber wie Gewerkschaften kritisieren ihr Konzept der Zuschussrente: Zu hohe Hürden, zu wenige, die davon profitieren. Und wer beispielsweise nach einer Kindererziehung schnell wieder Teilzeit arbeitet, bekommt genau so viel raus wie jemand, der deutlich länger zu Hause bleibt. Wo ist da der Anreiz?

Von der Leyen: Es gibt eine Gruppe, die hat fast keine Lobby. Das sind die Frauen oft meiner Generation, die fast durchgängig gearbeitet haben. Oft in Teilzeit, da gab es keine Kitas, das Wort Krippe war gar nicht im Wortschatz der Deutschen, geschweige denn Ganztagsschulplätze. Sie stellen fest, dass sie gearbeitet und Kinder erzogen haben – und zum Schluss reicht es nicht einmal für eine anständige Rente oberhalb der Grundsicherung. Sie bekommen so viel wie die, die gar nichts in dieser Hinsicht getan haben. Das ist ungerecht, zumal es ohne Kinder für niemanden eine Rente gibt. Die Zuschussrente ist unendlich wichtig für die Akzeptanz unseres Rentensystems und die private Vorsorge. Und dass nur wenige profitieren, das akzeptiere ich überhaupt nicht. Eine Millionen Frauen und Geringverdiener im Jahr 2030 sind eine Million Schicksale.

Abendblatt: Wer die Zuschussrente bekommen will, muss riestern. Was soll auf dem geplanten Beipackzettel für Riesterverträge stehen, wann kommt er und was steht drin?

Von der Leyen: Die Riester-Verträge müssen transparenter werden. Die Menschen müssen auf de ersten Blick sehen: Was zahle ich ein, was kommt heraus? Wir wollen die Konditionen einheitlicher machen, die Wechselprämien und die Provisionen begrenzen. Die Reform soll noch vor der Sommerpause Gesetz werden.

Abendblatt: Sollen auch Selbstständige in die Rentenversicherung aufgenommen werden? Auch das könnte helfen, der Altersarmut vorzubeugen.

Von der Leyen: Wir arbeiten daran. Wir müssen jetzt die Diskussion führen, welches feste System einer Altersvorsorge Selbstständige brauchen. Die gesetzliche Rentenversicherung ist dafür die erste Adresse. Es gibt aber auch Alternativen wie beispielsweise die Ärzteversorgung oder andere pfändungssichere Altersvorsorgesysteme.

Abendblatt: Wie wird sich der Arbeitsmarkt im Jahr 2012 entwickeln? Wagen Sie eine Prognose?

Von der Leyen: Seit der Wiedervereinigung ist der deutsche Arbeitsmarkt nicht so gut gewesen. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Erwerbstätigkeit. Nach wie vor sagen alle Daten, dass der Arbeitsmarkt robust bleibt. Wenn kein Einbruch der Weltwirtschaft kommt, wird der Abbau der Arbeitslosigkeit übers Jahr gesehen weitergehen, allerdings nicht mehr so schnell wie in 2011.

Abendblatt: Können Sie den Bürgern erklären, wie es zusammenpasst, dass die Anzahl der offenen Stellen auf einem Dauerhoch ist und gleichzeitig so viele Menschen arbeitslos sind?

Von der Leyen: Die einfache Erklärung ist die, dass die Qualifikationen der Arbeitslosen nicht zu den offenen Stellen passen. Bei den Langzeitarbeitslosen hat fast jeder Zweite keinen Berufsabschluss, ein Drittel ist über 50. Das heißt für die Arbeitsagentur: Sie muss nach Kräften qualifizieren, damit diese Menschen auch in der Gastronomie, den Dienstleistungen oder in der Pflege den Anschluss finden.

Abendblatt: Wie beurteilen Sie die Arbeit ihrer Nachfolgerin im Bundesfamilienministerium, Kristina Schröder?

Von der Leyen: Wir arbeiten im Kabinett gut zusammen.

Abendblatt: Aber Frau Schröders Idee der sogenannten Flexi-Quote, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen, reicht Ihnen nicht. Wann muss eine gesetzliche Regelung her?

Von der Leyen: Mich treibt der Fachkräftemangel um. Ich diskutiere jetzt ein Jahr darüber, dass Deutschland nicht mehr mit dieser Visitenkarte auftreten kann, dass in Großkonzernen quasi keine Frauen in Vorstand und Aufsichtsrat sind. Im internationalen Vergleich sind wir schlechter als Brasilien, auf Augenhöhe mit Indien. Nachdem in den letzten zehn Jahren alle Versprechen der Großkonzerne nicht eingehalten wurden, sollten wir klare Spielregeln setzen. 2018 sollten wir 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten haben. Auf dem Weg dorthin können wir flexibel sein, beim Ziel nicht.

Abendblatt: Warum gelingt den Unternehmen in Deutschland nicht, was den Unternehmen in anderen Ländern gelingt?

Von der Leyen: Moment! Im hoch erfolgreichen deutschen Mittelstand sind bereits 30 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt: still, pragmatisch, effizient. Das zeigt, dass es nicht an den Frauen oder fehlenden Qualifikationen liegt, sondern dass andere Gründe da sein müssen, dass die Türen in den Dax-Konzernen so verschlossen sind.

Abendblatt: Wie sollen Unternehmen sanktioniert werden, die sich nicht an die Vorgaben halten?

Von der Leyen: Nach verlorenen Jahren brauchen wir klare Ansagen für den Fall, dass wieder nichts passiert. Frankreich hat es so geregelt, dass die Beschlüsse von Aufsichtsräten ohne entsprechende Frauenquote zwar gelten. Denn die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen soll nicht leiden. Trotzdem muss das Gremium neu gewählt werden und die Sitzungsgelder für die männerdominierten Aufsichtsräte werden nicht ausgezahlt. Das ist doch eine charmante Lösung.

Abendblatt: Dann könnten wir ja beispielsweise Beiersdorf vom Handel an der Börse aussetzen.

Von der Leyen: Wir wollen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Aber es muss klar sein, dass was passiert, wenn wieder nichts passiert.

Abendblatt: Sie haben mit Politikerinnen aller Couleur und Prominenten einen Aufruf für eine gesetzliche Frauenquote unterzeichnet. Warum starten Sie im Bundestag nicht einen überfraktionellen Antrag?

Von der Leyen: Es gibt außerhalb des Parlaments eine breite gesellschaftliche Bewegung, die zeigt: Wir meinen es ernst. Und das Thema läst sich nicht mehr unter den Teppich kehren. Im Parlament halte ich es damit, dass die Regierung Gesetzentwürfe einbringt und dann darüber abgestimmt wird.

Abendblatt: Aber Sie machen auf außerparlamentarische Opposition, wenn die Arbeitsministerin die Berliner Erklärung als eine der Ersten unterzeichnet.

Von der Leyen: Das ist keine Opposition. Die gesetzliche Quote ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Ich habe starke Mitstreiterinnen, die eine eigene Dynamik entfalten. Frauen haben heute die besseren Bildungsabschlüsse, es gibt in allen Gebieten hochintelligente erfolgreiche Frauen. Wir sind nicht mehr bereit zuzulassen, dass zu viele Dax-Unternehmen zwar im Mittelbau Fortschritte machen, aber für die Topebenen hartnäckig die Lebenswirklichkeit ignorieren.

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