Ein Misserfolg des Klimagipfels in Kopenhagen könnte nach Einschätzung des Klimaforschers Prof. Hans Joachim Schellnhuber dramatische Auswirkungen auf Hunderte Millionen Menschen haben.

Berlin. „Wir stehen an einer Zeitenwende“, sagt der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Der Physiker Schellnhuber (59) ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen und Mitglied der deutschen Delegation beim Weltklimagipfel in Kopenhagen. Am 7. Dezember beginnt der Weltklimagipfel.

Was muss dort aus Sicht der Klimaforscher beschlossen werden?

Schellnhuber: Aus Sicht der Wissenschaft ist ein weltweit verbindlicher Beschluss, die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, dringend geboten. Wir haben jedoch schon sehr viel Zeit verloren. Seit dem Jahr 1900 ist die Temperatur global um durchschnittlich 0,8 Grad gestiegen. Jetzt gilt es, eine Brandschutzmauer zu errichten. Die Weltgemeinschaft sollte sich in Kopenhagen zumindest auf die wesentlichen Kriterien der Lastenverteilung zur Erreichung des Zwei- Grad-Ziels einigen. Wir stehen an einer Zeitenwende, es zählt wirklich jedes einzelne Jahr.

Welche Auswirkungen hat ein Temperaturanstieg von zwei Grad?

Schellnhuber: Bereits zwei Grad – und damit ist ja die globale Mitteltemperatur gemeint – sind ein fauler Kompromiss mit der Natur. Es gibt keine magische Grenze, bis zu der alles im Lot bleibt. Eine Erwärmung um zwei Grad im Durchschnitt bedeutet, dass die Pole und das Hochgebirge mit plus fünf bis sieben Grad viel stärker betroffen sind als Meeresregionen. Die meisten Gletscher verschwinden, mächtige Flüsse werden zeitweise und möglicherweise langfristig ganz austrocknen, was Hungersnöte zur Folge hätte. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte der Meeresspiegel um ein, im ungünstigsten Fall sogar bis zu zwei Meter steigen. Selbst ein Anstieg um weniger als einen Meter würde sich massiv auf Siedlungsstrukturen auswirken. Korallenriffe würden weitgehend vernichtet. Zwei Grad klingt nicht nach viel, es ist aber der Unterschied zwischen dem mediterranen Klima in Mailand und dem Regionalklima in Berlin.

Und über zwei Grad?

Schellnhuber: Bei 2,5 Grad ist das Abschmelzen des Grönland-Eises wahrscheinlich. Der Meeresspiegel würde dann langfristig, also über die kommenden Jahrhunderte, um sieben Meter ansteigen. Bei drei Grad steht der Regenwald am Amazonas auf dem Spiel. Bei weiterer Erwärmung würden die Permafrostböden auftauen und mit der Freisetzung von riesigen Mengen Methan den Effekt weiter dramatisch anheizen.

Viele Menschen möchten sich mit solchen Weltuntergangsszenarien nicht beschäftigen.

Schellnhuber: Das verstehe ich. Die einen sagen verharmlosend, das ist so weit weg und wer weiß, ob das überhaupt zutrifft. Andere sind verzweifelt und denken, man könne sowieso nichts mehr dagegen tun. Aber wenn wir jetzt handeln, können wir das Schlimmste verhindern. Technologisch und ökonomisch ist es machbar, in den nächsten Jahrzehnten auf erneuerbare Energie umzustellen. Aber wir brauchen den Willen aller Länder. Je früher wir anfangen, desto leichter und vor allem preiswerter wird der Übergang gelingen. Warteten die Industrieländer hingegen noch weitere zehn Jahre, bevor sie massiv in den Umbau der Energieversorgung investieren, müsste man ab 2020 den Ausstoß von Treibhausgas so stark mindern, wie es nur noch mit Hilfe einer Art Kriegswirtschaft möglich wäre.

Es gibt Berichte, nach denen die Erderwärmung eine Pause einlegt.

Schellnhuber: Ja, seit 1998 stagniert die globale Mitteltemperatur leicht – allerdings auf einem sehr hohen Niveau. Das müssen wir klarstellen, auch wenn die Leute jedes Jahr neue Klimarekorde sehen wollen. Vor allem darf man nicht verschweigen, dass das letzte Jahrzehnt das wärmste seit über einhundert Jahren war. Wegen verschiedener Sonderfaktoren überrascht die voraussichtlich kurze Pause nicht, leider wird die Erwärmung wieder aufholen. Insgesamt ist es eine schlechte Nachricht, da trotz Stagnation die Auswirkungen auf die Umwelt viel dramatischer sind als vorhergesagt. Wir haben die Folgen sogar unterschätzt.

Müssen wir radfahrende Vegetarier werden, die abends im Dunkeln sitzen?

Schellnhuber: Das wollen wir ja gerade vermeiden. Es geht nicht darum, das gute Leben abzuschaffen. Aber wenn wir nichts tun, werden wir nicht nur im Dunkeln sitzen, sondern auch nasse Füße bekommen und nicht genügend Nahrung haben. Jeder kann einen Beitrag leisten. Man muss nicht zum Shoppen nach New York fliegen oder mit dem Geländewagen zum Bäcker um die Ecke fahren. Es gibt riesige Einsparpotenziale, Kommunen müssten zum Beispiel die Wärmedämmung von Gebäuden vorantreiben.

Kann uns die Atomenergie eine Atempause verschaffen?

Schellnhuber: Ich halte es nicht für sinnvoll, neue Kernkraftwerke zu bauen, aber es wäre schlau, nach Einzelfallprüfungen die Laufzeiten zu verlängern. Drei Viertel der Gewinne sollten in den Ausbau der erneuerbaren Energien gesteckt werden. So könnte uns die Atomkraft einen letzten Dienst erweisen.

In welcher Welt wird ihr eineinhalbjähriger Sohn aufwachsen?

Schellnhuber: Aufgrund des medizinischen Fortschritts hätte mein Sohn gute Chancen, bis zum Jahr 2100 zu leben. Aber es gibt zwei Arten von Bedrohung, neben dem Klimawandel auch die Zunahme von Bürgerkriegen. Frieden in Europa ist kein Naturgesetz. Wenn von künftig neun Milliarden Menschen auf der Erde 8,5 Milliarden in Armut und Not leben, kann das nicht gut gehen. Wie sollen wir mit 500 Millionen Meeresflüchtlingen zurechtkommen? Das kann keine lebenswerte Welt sein.