Norbert Lammert kritisiert nach seiner Wiederwahl das Desinteresse von ARD und ZDF. Im Plenum applaudieren ihm viele Neue. Deutschlands Politik erlebt einen Generationenwechsel.

Berlin. Einen politischen Akzent setzt hier, auf der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestags, nur einer: der alte und der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).

Gleich nachdem er mit 522 Ja-Stimmen souverän im Amt bestätigt worden ist. Er muss als zweithöchster Mann im Staate zwar parteipolitische Neutralität wahren - aber unpolitisch sein, das braucht er nicht. Lammert kennt seine Rechte. Und Lammert ist wütend. Mit scharfen Worten schilt er in seiner Rede unter großem Beifall aus allen Fraktionen die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten: "Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass das gebührenpflichtige, üppig dotierte Fernsehen mit einer souveränen Sturheit auch am Tag der Konstituierung des neuen Bundestages die Sitzung nicht überträgt, sondern der Unterhaltung Vorrang gibt vor der Information", sagt er. Und dass die einzige Rechtfertigung für die Privilegierung der öffentlichen Sender ihr Informationsauftrag sei. Sie kämen diesem aber nicht nach, wenn zeitgleich zur Konstituierung des neuen Parlaments in der ARD die Komödie "Schaumküsse" und im ZDF Serien wie "Bianca - Wege zum Glück" liefen. Er finde eine solche Entscheidung der Programmverantwortlichen "bemerkenswert" - und er werde sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit erneut anprangern.

Wie eine Drohung klingt das, und Lammert ist sich darüber als Profi des Politgeschäfts im Klaren. Im Manuskript seiner Rede, das vorab verteilt worden ist, sucht man diese Passage vergebens. Eine bewusste Entscheidung, um nicht schon frühzeitig die Pferde verrückt zu machen? An einen Schnellschuss will hier im Bundestag keiner glauben.

Jedenfalls sitzt die Kritik. Und zwar so, dass ARD-Chefredakteur Thomas Baumann nur wenig später öffentlich widerspricht und auf die Übertragung im öffentlich-rechtlichen Gemeinschaftskanal Phoenix verweist. Er halte das für "absolut ausreichend". Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte habe gelehrt, dass es sich bei der Konstituierung des Bundestags eher um einen organisatorischen Akt handele, bei dem es im Wesentlichen nicht um politische Inhalte gehe. Deshalb habe sich das Erste gegen eine Übertragung entschieden.

Die Konsequenz ist, dass den Zuschauern von ARD und ZDF auch alles andere entgeht, was diesen Tag zu einem Dokument des deutschen Parlamentarismus macht. Der Auftritt von Heinz Riesenhuber (73) zum Beispiel. "Ich bin geboren am Sonntag, den 1. Dezember 1935. Wenn jemand älter ist im Saal als ich, dann spreche er jetzt oder schweige für immer", leitet der Ex-Forschungsminister launig seine Rede ein, mit der er als Alterspräsident die Sitzung zu eröffnen hat. So wollen es die Statuten. 200 der 622 Abgeordneten, die ihm da zuhören, sind Frischlinge. Viele von ihnen haben noch nicht mal ein Büro, weil die 187 abgewählten Kollegen noch bis Ende Oktober Zeit haben, ihre Räume zu leeren. Manche machen von diesem Recht, so heißt es, sprichwörtlich bis zur letzten Sekunde Gebrauch. Im Plenum ist das große Stühlerücken aber vollendet. Und hätten ARD und ZDF sich zugeschaltet, dann könnten auch die TV-Zuschauer registrieren, wie zum Beispiel Herta Däubler-Gmelin (SPD) mit stillem Blick das Geschehen von der Besuchertribüne aus verfolgt. Seit 1972 hat sie dem Parlament angehört, 37 Jahre lang. Jetzt ist für sie Schluss wie für Ex-Finanzminister Hans Eichel, der neben ihr Platz genommen hat.

Nur 101 jener Abgeordneten, die 1999 beim Unzug des Bundestags von Bonn nach Berlin dabei waren, sind noch dabei. Weniger als ein Sechstel ist das. Szenen von Abschied und Neuanfang prägen den Tag. Da gibt Johannes Vogel, 27 Jahre alt und eben erst in den Bundestag gewählter Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, im Foyer sichtbar stolz ein Interview nach dem anderen. Da lässt sich Sven-Christian Kindler, 24 Jahre alt und jüngster Grüner vom Urgestein Hans-Christian Ströbele (70), die Gepflogenheiten im Hohen Haus erklären.

Und da rauschen in der Pause zwei Frauen über den Flur, weil die eine der anderen das Justizministerium übergeben muss: Brigitte Zypries (SPD) und Nachfolgerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Gleich wird Bundespräsident Horst Köhler den Mitgliedern des alten Kabinetts die Entlassungsurkunden überreichen. Das Gesprächsthema Nummer eins aber hat Lammert gesetzt. "Ich fand seine Kritik klasse", sagt der Hamburger Burkhardt Müller-Sönksen (FDP). "Die Übertragung auf Phoenix entschuldigt nichts."