Ansichtssache

Ein kleiner Junge läuft morgens nackt durch das Reitbahnviertel, einen Plattenbaubezirk in Neubrandenburg. Ein Anwohner nimmt den zitternden Dreijährigen mit zu sich und ruft die Polizei. Die Mutter des Kindes ist zu Hause "nur schwer ansprechbar", sagen die Beamten, die Zimmer befänden sich "in einem erschreckenden Zustand".

Das war am Freitag. Tags zuvor holte die Polizei im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf zwei Schwestern aus einer Wohnung voller Müll, Bierflaschen und übervollen Aschenbechern. Am Sonntag retteten Polizisten in Berlin-Spandau drei kleine Mädchen aus einer völlig verdreckten Wohnung; die Mutter war betrunken.

Es ist leicht, zu leicht, sich hier in Abscheu zu ergehen. Es ist auch zu leicht, nach schwereren Strafen für Eltern zu rufen, die ihre Kinder vernachlässigen oder sie, wie im Fall Kevin oder Lea-Sophie, elend zugrunde gehen lassen. Selbst Gerichtsprozesse machen wenig sichtbar von der allmählichen Verelendung, der Überforderung, dem Aufgeben in diesen Familien, von der Verhärtung, mit der Mütter oder Väter irgendwann mental ihre Kinder abstoßen und nur sich selbst noch am Leben halten.

Was so weh tut, ist die Häufigkeit der Fälle. Es hilft nichts, wenn Experten sagen: "Kindesmisshandlung und Verwahrlosung gab es früher doch noch viel öfter!" Stimmt, wir sind heute nur sensibilisierter. Aber doch deshalb, weil heute in diesem reichen Land kein Kind mehr sterben oder zwischen Müll leben müsste. Und auch kein Erwachsener.

Warum gibt es Familien, die offenbar trotz unserer Sozialpolitik verarmen und verwahrlosen? Fast jeden Abend diskutieren Sozialdezernenten, Suppenküchen-Betreiberinnen, Kinderärzte und Politiker im Fernsehen: Wir tun doch alles mit Hartz-IV, ALG II, Betreuungsgeld, Kinderzuschlag, um das Leben der Armen zu verbessern! Warum bessern die sich nicht?

Weil all diese Maßnahmen auf eine Realität stoßen, für die sie nicht gemacht sind. Sie setzen Menschen voraus, die informiert sind, noch ein Ziel haben. Aber was ist, wenn Erwachsene nur noch den Weg zur Tanke und zum Sozialamt kennen? Wenn Kinder nicht mehr bei Spielkameraden auftauchen? Soziale Dienste werden getäuscht, wenn in einer Familie schon etwas zu verbergen ist. Und sie lassen sich auch täuschen, weil sie bei mehr als hundert "Klienten" den Überblick verlieren.

Mehr Debatten brauchen wir nicht: Längst ist klar, dass einzig ein Netzwerk von Hebammen, Kinderärzten, Hausbesuchern, Kindergärtnerinnen, Vor-Ort-Helfern gefährdete Familien überhaupt aufspüren kann. Dafür muss jede Kommune Haushaltsmittel freigeben. Diese Gesellschaft ist nicht kalt und lieblos. Aber ihre Hilfen sind für Verwahrlosungsfälle zu anonym strukturiert. Die wahre Aufgabe besteht nicht darin, Geld auf Konten zu überweisen, sondern Hilfe in die "Plattenbauten" zu bringen. Auch in Hamburg.