Berlin. Macht! Nach nichts anderem streben Politiker/-innen emsiger und verbissener. Aber wenn sie gefragt werden, ob sie nach Macht streben, üben sich Politiker beiderlei Geschlechts mit schöner Regelmäßigkeit in scheinbaren Demutsgesten. "Ich will Deutschland dienen", hauchte im zurückliegenden Bundestagswahlkampf sogar die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, deren Durchsetzungskraft und Machtwille inzwischen nicht mal mehr die Männer in ihrer eigenen Partei unterschätzen

Vor gut einem Jahr, als der Kampf ums Kanzleramt noch nicht so unmittelbar und direkt ausgefochten wurde wie in den Wochen vor dem 18. September 2005, da hatte die gelernte Physikerin noch viel offenherziger über ihre inneren Antriebskräfte gesprochen. Ob sie in die Politik gegangen sei, weil sie Macht wolle, war sie im Juli 2004 von der "Berliner Zeitung" gefragt worden. Frank und frei und ein wenig verschmitzt hatte sie geantwortet: "Früher wollte ich auch Macht - die über die Moleküle. Es geht mir um Gestaltung. Das mache ich jetzt auf einem ganz anderen Feld."

Und was sie sich auf diesem "ganz anderen Feld" zutraut, hatte sie schon im Januar 2002 in der Talkshow "Beckmann" unumwunden und ohne falsche Bescheidenheit klargemacht. "Ich habe die klare Vorstellung, wie ich als Bundeskanzlerin vieles besser machen würde."

Damals mißglückte ihr der Griff nach der Kanzlerkandidatur noch. Damals mußte sie dem CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber den Vortritt lassen. Doch jetzt ist die 51jährige Protestantin am Ziel ihrer Wünsche. Heute wird Angela Merkel - wenn alles planmäßig läuft - nach ihrer Wahl im Bundestag ins Kanzleramt einziehen und - nach sieben männlichen Vorgängern - als erste Frau Regierungschefin des Landes, also das politisch wichtigste Amt der Bundesrepublik Deutschlands übernehmen.

In der Rückschau erscheinen politische Karrieren oft als eine Abfolge sorgsam geplanter Schritte. Doch in Wirklichkeit entscheiden außer Tüchtigkeit häufig vor allem Zufälle über politischen Auf- oder Abstieg.

So würde etwa von Angela Merkel womöglich heute keiner mehr reden, hätten nicht (der später an sich selbst gescheiterte) Günther Krause und Lothar de Maizière sie nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 Bundeskanzler Helmut Kohl wärmstens empfohlen. Kohl hatte unbelastetes, ministrables Personal aus dem Osten gesucht. Krause, später gesamtdeutscher Verkehrsminister, und de Maizière, erster und letzter demokratisch gewählter Ministerpräsident der DDR, rieten ihm zu Merkel.

Sie hatte de Maizière in Ostberlin während seiner kurzen Amtszeit als Vize-Regierungssprecherin gedient. Allenfalls politische Insider kannten sie damals. Manche hochnäsigen "Wessis" verspotteten sie damals gar als "Angela Ahnungslos", war sie doch gänzlich unerfahren im politischen Geschäft. In der damaligen Bundeshauptstadt Bonn kannte sie kein Mensch.

De Maizière warnte sie damals vor: "Dir kann es passieren, daß der Bundeskanzler dich anruft. Du sollst Ministerin werden", erzählte er Merkel. "Vollkommen erschrocken" sei sie gewesen, soll sogar, ganz perplex, zu ihm gesagt haben: "Du bist verrückt."

Doch als "Kohls Mädchen" wurde Merkel im Alter von 36 Jahren Kabinettsmitglied. Heute nun steht die 1954 in Hamburg geborene, dann aber in der DDR, in Templin in der brandenburgischen Uckermark aufgewachsene Pastorentochter, vor dem bisher größten Schritt ihrer Karriere. Eine Quotenfrau ist sie niemals gewesen. Nur lange unterschätzt, das wurde sie, war sie doch außergewöhnliche Spät- und Quereinsteigerin.

In den 80er Jahren, als Deutschland noch geteilt war, regierte in der Bundesrepublik unangefochten Helmut Kohl, während in der SPD die Schröders und Lafontaines bereits an ihren Karrieren bastelten. Und in der Union träumten die Kochs und Wulffs und Rüttgers längst vom Aufstieg in der Politik. Merkel hingegen befaßte sich damals im SED-Staat am Zentralinstitut für Physikalische Chemie an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften vornehmlich mit Quantenchemie.

Als dann die DDR 1989 kollabierte, ging Merkel keineswegs zielgerichtet zur CDU, sondern landete erst einmal beim "Demokratischen Aufbruch", der im Dunstkreis der protestantischen Kirche entstanden war und erst später in der CDU aufging.

Die 90er waren für Merkel - gefördert von Kohl - lange Zeit vor allem politische Lehrjahre. Weder als Frauen- noch als Umweltministerin wirkte sie herausragend, biß sich aber konsequent durch, machte keine wesentlichen Fehler und erwarb sich zunehmend Respekt. Machtinstinkt und Mut sagten ihr damals schon mehr und mehr Parteifreunde nach.

Doch steil aufwärts ging es mit Merkel erst nach dem Machtwechsel 1998, als Rot-Grün die Regierung übernahm und Wolfgang Schäuble von Kohl den CDU-Vorsitz. Schäuble machte Merkel zur CDU-Generalsekretärin. Da war sie 44 Jahre alt. Und sie hatte den Mut, Ende 1999 ohne Wissen von Schäuble ganz kühl und unsentimental in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Abnabelung der CDU von Kohl zu propagieren, um die Partei im Strudel von Kohls Spendenaffäre nicht untergehen zu lassen.

Merkel vermochte es auch, in den dramatischen Monaten nach Schäubles Sturz im Frühjahr 2000, die CDU wieder zu stabilisieren. Fortan baute sie, von ehrgeizigen Männern in der eigenen Partei argwöhnisch beäugt, konsequent ihre Macht aus. Sie bewies, was unter Männern als Durchsetzungskraft gilt. Doch prompt wurde ihr von Gegnern nachgehämt, sie sei eine "männermordende" Machtpolitikerin. Erst habe sie Kohl wegen der Spendenaffäre in der Partei marginalisiert. Dann habe sie Schäuble verdrängt und schließlich den ebenso eitlen wie empfindlichen und ehrgeizigen Friedrich Merz. Dem entwand sie nach der Bundestagswahl 2002 den Fraktionsvorsitz.

Ob die CDU mit ihren starken Bastionen im Süddeutschen und im katholischen Milieu eine Bundestagswahl mit einer kinderlosen, ostdeutschen Protestantin gewinnen könne, wurde von vielen auch angezweifelt. Als Merkel die CDU auf einen strikt marktwirtschaftlichen Kurs trimmte, wurde sie als "Maggie Merkel" mit der legendären Maggie Thatcher aus Großbritannien verglichen

Immer wieder wurde Merkel nachgesagt, sie sei allzu mißtrauisch. In der Tat läßt sie nur wenige Menschen nah an sich heran. Ihr Privatleben schirmt sie strikt ab. Mit ihrem zweiten Ehemann, dem Chemieprofessor Joachim Sauer, lebt sie mitten in der Hauptstadt unmittelbar neben der weltberühmten Museumsinsel. Nur selten zeigt sich das Ehepaar gemeinsam bei öffentlichen Anlässen, meist einmal im Jahr bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Freie Wochenenden verbringt Merkel gerne abgeschieden in Templin. Sie liebt Spaziergänge in der dortigen Uckermark, pflegt einen verschmitzten Humor und vermag, berichten Unionisten, vorzüglich Stoiber zu parodieren.

Doch die vermeintlich so mißtrauische Merkel, die anders als die Wulffs, Kochs, Müllers oder Stoibers ohne Hausmacht und Seilschaft in die Bundespolitik startete, ist längst auch eine Netzwerkerin. Sie stützt sich keineswegs nur auf ein kleines "Girlscamp" enger Mitarbeiterinnen, sondern ist längst breit vernetzt in der Partei und wird von vielen Getreuen gestützt. Nun übernimmt sie das Amt des Bundeskanzlers, das mächtigste, aber wohl auch das einsamste Amt, das die deutsche Politik zu vergeben hat. Da wird sie Rückhalt in den eigenen Reihen noch häufig brauchen.