Wahlkampfauftakt: Im Osten ist die Union ganz unten

Wittenberg/Cottbus. Dagmar und Rainer Gräfe stehen im Türrahmen ihres Uhren- und Schmuckgeschäfts im Zentrum der Lutherstadt Wittenberg und schauen neugierig auf den Menschenpulk, der sich langsam durch die Fußgängerzone Richtung Marktplatz schiebt. Da soll in wenigen Minuten der sachsen-anhaltinische Wahlkampfauftakt der CDU über die Bühne gehen. Am Laden von Uhren-Gräfe macht die seltsame Karawane unvermittelt halt. Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel tritt aus dem Gewühl, übt sich in der beliebten Wahlkämpfer-Disziplin: Volksnähe zeigen. Kurzes Hallo, Händeschütteln, "wie geht's", "alles Gute". 30 Sekunden - und Merkel ist wieder weg.

Zurück bleibt ein verblüfftes Ehepaaar Gräfe, das nun aber keineswegs dafür gewonnen ist, CDU und Merkel zu wählen. "Ich wähle eigentlich gar nicht", gesteht Rainer Gräfe. Und seine Gemahlin Dagmar verrät, sie sei "neutral", wisse momentan auch nicht, wen sie wählen solle. "Total verunsichert" sei sie, "durch Stoiber jetzt sowieso".

Edmund Stoiber. Wo immer Angela Merkel in diesen Tagen im Osten Deutschlands auftaucht, ist der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef geistig in den Köpfen der Menschen längst präsent. Mit seinen schneidigen Anti-Ost-Attacken hat er in den neuen Ländern die Stimmung für die Christdemokraten auf einen Tiefpunkt gedrückt. "Die Orts- und Kreisverbände hier sind außer sich", klagt ein CDU-Funktionär, der nicht genannt werden will.

Er habe nur "wachrütteln" wollen, hatte er später nachgeschoben. "Damit das einmal gesagt wird", knurrt nun in Wittenberg Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer mit finsterer Miene: "Niemand muß uns hier aufrütteln und muntermachen. Bei 20 Prozent Arbeitslosigkeit ist man wachgerüttelt genug."

Während Böhmer bei der Pressekonferenz im Lutherhaus Klartext redet, ohne Stoibers Namen in den Mund zu nehmen, versucht die neben ihm sitzende Merkel eine möglichst ausdruckslose Miene aufzusetzen. Wenig später, auf dem Marktplatz, meidet sie auch den offenen Widerspruch zu Stoiber, um den Zwist in der Union nur nicht anzuheizen. Sie beschränkt sich auf verbale Spitzen.

Die Unterschiede zwischen Ost und West sollen nicht kultiviert werden, sagt sie auf der Großkundgebung vor rund 2000 Schaulustigen: "Es wird ganz Deutschland nur gutgehen, wenn es auch dem Osten gutgeht." Zur Klugheit der ostdeutschen Landeskinder merkt Merkel an, der neuestens Pisa-Studie zufolge habe Sachsen-Anhalt kräftig aufgeholt. Die Sachsen seien den Bayern eh dicht auf den Fersen. Begeisterungsstürme entfacht Merkel mit solchen Sätzen nicht. Reserviert verfolgen die meisten Besucher Merkels ersten Auftritt im Osten der Republik. Von Ost-Bonus und Heimspiel keine Spur. Linke Störer blasen nach Kräften in ihre Trillerpfeifen. "Bin proletarisiert, frustriert und blöd! Dank(e) CDU" hat einer auf sein Transparent geschrieben. Ein anderer schwenkt ein Plakat mit der Aufschrift "Stoiber in die Isar, niemals an die Spree".

Merkel gibt sich unbeeindruckt, spult 30 Minuten lang ganz sachlich, ohne rhetorische Gags und Höhepunkte ihr Programm ab, liefert eher einen Volkshochschulvortrag als eine flammende Wahlrede. Von der Mehrwertsteuer eilt sie zu den Lohnzusatzkosten, kommt zum Bürokratieabbau, läßt sogar das Thema Videoüberwachung nicht aus. Auf die Linkspartei geht sie nur mit wenigen Sätzen zum Schluß ihrer Rede ein. Als sie nach 30 Minuten endet, gehen die Menschen rasch ihrer Wege. Ein Funke ist von Merkel nicht auf die Menge übergesprungen.

Funken sprühen derzeit nur unionsintern. Dort glimmt so manches Feuerchen, es qualmt aus allen Ecken. Wenn es denn jemals eine gemeinsame Wahlkampfstrategie von CDU und CSU gegeben haben sollte, ist sie längst zum Teufel. Als Hauptschuldiger gilt Stoiber. Illoyal halte der sich an keine Absprachen. "Der macht, was er will", heißt es erbost im Adenauer-Haus, agiere restlos überdreht.

Kaum hatte die Union das Ziel formuliert, stärkste Partei im Osten werden zu wollen, griff Stoiber zum Knüppel der Ossi-Beschimpfung. Kaum war verabredet, die Linkspartei nicht noch interessanter zu machen, bereitete Stoiber ihr die Bühne, bot Oskar Lafontaine ein Duell an.

Nachdem Stoiber vorzeitig Namen aus Merkels Kompetenzteam verriet, das offiziell erst heute vorgestellt werden soll, gab es vergangene Woche intern heftigen Krach zwischen Stoiber und dem Niedersachsen Christian Wulff. Stoiber ist in der CDU unten durch wie noch nie.

Wie tief unten durch die CDU im Osten ist, konnte Merkel gestern in Cottbus merken. Als sie dort vor der Stadthalle gemeinsam mit dem brandenburgischen CDU-Chef und Innenminister Jörg Schönbohm auftaucht, geht ein gewaltiges Pfeifkonzert und Gejohle los. Es richtet sich vor allem gegen Schönbohm, der kürzlich über die vermeintliche Proletarisierung des Ostens schwadronierte. Jeder seiner Sätze ging unter in einem Konzert von Buhs und Trillerpfeifen. Sogar gediegene Bürger, die später bei Merkel klatschen, wettern gegen ihn.

Doch dann bringt Merkel ein kleines Kunststück fertig. Sie neutralisiert durch Beharrlichkeit die anfangs aggressive, fast feindselige Stimmung. Unbeirrt argumentiert sie ihre politischen Pläne durch. Wohltaten verspricht sie nicht, nicht einmal eine Ost-West-Angleichung von Hartz IV. Irgendwann packen sogar die Störer ihre Trillerpfeifen weg. Die Menge hört zu. Nur zum Schluß, als noch eine Lokalgröße ans Mikrophon darf, gibt es wieder Buh-Rufe und Pfiffe en masse. In Cottbus wird die CDU die Wahl wohl nicht gewinnen. Doch Respekt hat sich Angela Merkel dort gestern erworben.