Außenminister: Die Ereignisse in der Visa-Affäre überschlagen sich. Einst war er ihr Liebling, jetzt fürchten die Grünen seinen Sturz.

Berlin. Jerzy Montag und Olaf Scholz strahlen wie zwei Honigkuchenpferde, als sie gestern gegen halb zwölf Uhr aus dem Sitzungssaal 4.900 im Paul-Löbe-Haus des Bundestages vor die Mikrofone stürmen. Dort machen sich der Grüne Montag und der Sozialdemokrat Scholz an das Kunststück, dem Journalistenpulk eine rasante Rolle rückwärts als neues Kernelement einer temporeichen Vorwärtsstrategie zu verkaufen. "Wir drücken aufs Tempo", knarzt der Grüne Montag.

Monatelang hatten die Koalitionäre im Visa-Untersuchungsausschuß des Bundestages mit allen parlamentarischen Tricks und argumentativen Kniffen gearbeitet, um eine Vernehmung von Außenminister Joschka Fischer noch vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai möglichst zu verhindern. Doch jetzt kann es den Rot-Grünen plötzlich nicht schnell genug gehen. Nun soll der politisch taumelnde Fischer vor dem Ausschuß bereits am 25. April aussagen. "Das ist keine Umkehrung unserer bisherigen Position", erklärt Scholz die Pirouette.

In gewisser Weise hat der Hamburger sogar recht. Sein Job im Untersuchungsausschuß dient der Schadensbegrenzung. Und der Schaden droht inzwischen für Rot-Grün von Tag zu Tag größer zu werden. Seit die Visa-Affäre kocht, ist Fischer vom einstigen Liebling der Massen zum personellen Problemfall Nummer eins der Koalition mutiert. Auch vermeintlich nahestehende publizistische Truppen gehen auf Distanz. "Fischers Visum läuft bald ab", ätzte Mitte Februar die Tageszeitung "taz", das Leib- und Magenblatt vieler Grüner.

Daß das "Alpha-Tier" aus dem Auswärtigen Amt über die Visa-Affäre stürzen könnte, fürchten vor allem die Grünen, die nicht wissen, wie sie ohne ihr bisheriges Zugpferd auskommen sollen. Inzwischen beschleicht Rote und Grüne aber gemeinsam die Höllenangst, die Affäre um Fischer könne der Koalition bei der Landtagswahl in NRW den letzten Rest geben und Schwarz-Gelb zum Machtwechsel an Rhein und Ruhr verhelfen. Die zunächst von Rot-Grün ausgetüftelte Strategie zielte erkennbar darauf ab, Fischer bis über den 22. Mai hinweg möglichst zu verstecken. Das verfing nicht. Also muß Fischer jetzt schon im April vor den Ausschuß. Per "Bild"-Interview hatte der Minister gestern sogar selbst erklärt, er habe ein Interesse, "so schnell wie möglich auszusagen". Insgeheim hoffen die Koalitionäre nun, daß nach Fischers Auftritt das Interesse an der Affäre erlahmen und das Thema bis zur NRW-Wahl in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen sein könnte. Entsprechend prompt kam aus Düsseldorf auch Beifall für den Fischer-Termin im April.

NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD), der um seine Macht kämpft, verkündete erleichtert: "Je früher die Dinge auf den Tisch kommen, um so eher können wir uns den wirklich wichtigen Themen widmen, die unser Land beschäftigen: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die weiteren Schritte zum Ausbau und zur Verbesserung unseres Bildungssystems."

Ob Steinbrücks Kalkül aufgeht, ist allerdings unsicher. Denn Fischer trudelt inzwischen nicht mehr nur wegen der Visa-Affäre. Inzwischen ist er in einen erbitterten Zweifrontenkrieg verstrickt, hat nicht nur die Opposition zu fürchten, sondern massiven Druck auch aus dem eigenen Ministerium. Dort rumort es gewaltig wegen einer von Fischer geänderten Gedenkpraxis für verstorbene Diplomaten in der hausinternen Zeitschrift.

Von Rebellion und Aufstand im Auswärtigen Amt (AA) wird gesprochen, von massivem Autoritätsverlust bei Fischer, von beispiellosen Vorgängen in einem Ministerium, dessen Mitarbeiter für ihren Korpsgeist ebenso bekannt sind wie bis dato - eigentlich - auch für ihre Loyalität gegenüber dem jeweiligen Minister. Und jetzt? Alle gegen Fischer?

Fischer hatte im AA verfügt, in der Mitarbeiter-Zeitung des Ministeriums keine Nachrufe für verstorbene Diplomaten mehr veröffentlichen zu lassen. Auslöser der Entscheidung war ein Nachruf für einen Ex-Diplomaten, der NSDAP-Mitglied gewesen und in der Tschechoslowakei wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden war. Der Nachruf hätte so nicht erscheinen dürfen, so Fischer jetzt in "Bild". Dafür schäme er sich noch heute. Über Todesfälle werde deshalb nur noch nachrichtlich informiert. Dabei bleibe es.

Fischers Entscheidung ist nicht nur bei ehemaligen, sondern auch bei aktiven Diplomaten auf Kritik gestoßen. Der deutsche Botschafter in der Schweiz, Frank Elbe, warf Fischer in einem geharnischten, öffentlich gewordenen Brief miserables Krisenmanagement und Mangel an politischer Empfindsamkeit vor.

Ex-Botschafter Hans Schneppen sprach wegen der Visa-Affäre und dem Streit über die Nachrufe von einer ganz schlechten Stimmung im Ministerium. Viele Mitarbeiter nehmen es Fischer übel, daß er bei der Gedenkpraxis Verdienste von Diplomaten nach dem Kriege außer acht läßt. Darauf hebt auch Schneppen ab. "Letztlich habe ich es auch als unehrlich bezeichnet, weil der Minister hier diesem Kreis die Möglichkeit des demokratischen Wandels abspricht, aber für sich und seine Freunde den politischen Irrtum sehr wohl in Anspruch genommen hat", erklärte Schneppen unter Anspielung auf Fischers Vergangenheit als linksradikaler Straßenkämpfer.

Der offene Protest gegen die geänderte Gedenkpraxis ist nach Ansicht etlicher Kenner des AA Zeichen für einen rapiden Autoritätsverfall Fischers. Etliche Diplomaten aus dem schwarz-gelben Lager machten jetzt aber auch gezielt Front gegen Fischer. Doch nun entlade sich in der Schwächephase des Ministers wegen der Visa-Affäre auch der Frust vieler AA-Mitarbeiter über schlechte Behandlung durch den Mann an der Spitze. Fischers Arroganz ist legendär. Viele Grüne nennen Fischer deshalb mit Spitznamen "Gottvater". Viele im politischen Berlin halten Fischer vor allem für einen "Kotzbrocken", der seinen Aufstieg bis zum Vize-Kanzler nicht verkraftet habe, sich für unersetzbar halte, selbstherrlich agiere und schlechtes Benehmen mit staatsmännischem Stil verwechsle.

In selbstherrlichem Stil unterschätzte Fischer anfangs auch die Visa-Affäre. Am 14. Februar war es. Da marschierte Fischer im Sturmschritt zur Grünen-Parteizentrale in Berlin. Vor der Tür, im naßkalten Schneegestöber, gab er mit selbstgefälliger Miene ein paar knappe Minuten recht allgemeine Auskünfte zur Visa-Affäre und duckte sich, bevor er im Haus verschwand, gleich hinter seinen Mitarbeitern weg.

"Für mögliche Versäumnisse und Fehler meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trage ich die politische Verantwortung." Die Äußerung sorgte dem Vernehmen nach unter vielen Mitarbeitern des AA für helle Wut, war die Spitze des Ministeriums doch von Diplomaten wiederholt vor ihrer Visa-Politik gewarnt worden. Inzwischen ist Fischer etwas kleinlauter geworden, schließt eigene Versäumnisse nicht aus und bittet um Verständnis: "Niemand ist perfekt." Ob ihn solche Demutsgesten noch retten, steht in den Sternen. "Der Ansehensverlust ist bereits enorm", sagte der FDP-Mann im Visa-Untersuchungsausschuß, Max Stadler, gestern in einer Sitzungspause. Keiner widersprach.