Wolf Biermann trägt Klage-Gedicht aus Auschwitz vor.

Berlin. Mit einem Appell gegen das Vergessen haben Vertreter von Bund und Ländern gestern in einem Staatsakt an den 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz erinnert.

"Unser Gedenken gilt allen, die unermeßliches Leid erlitten, denen die Würde genommen wurde, die ihr Leben verloren", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bei der Gedenkstunde im Plenarsaal des Bundestages. "Die verpflichtende Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen ist Teil unserer moralischen und politischen Identität." Mit der Befreiung der rund 7000 noch lebenden Insassen in Auschwitz vor 60 Jahren sei offenbar geworden, "was Menschen Menschen anzutun in der Lage sind", so Thierse.

Bis heute falle es den Deutschen schwer, sich dem Grauen der eigenen Geschichte zu stellen. "Gerade weil wir uns die Brutalität der Täter und die Leiden der Opfer nicht vorstellen können - was Auschwitz wirklich war, das wissen nur die Häftlinge. Die Ermordeten können es uns nicht sagen - gerade deshalb müssen wir . . . gemeinsam immer neu nach einer Sprache gegen das Vergessen suchen."

Thierse beklagte, daß noch heute rechtsextremistische Einstellungen in Teilen der deutschen Gesellschaft verankert seien. Dabei erinnerte er vor allem an das Verhalten der Abgeordneten der NPD im sächsischen Landtag, die sich vergangene Woche dem Gedenken an die Opfer des Holocausts verweigert und zugleich von einem "Bomben-Holocaust" der Alliierten gesprochen hatten.

Thierse sagte, es sei "eine Schande" und "eine enorme Herausforderung für uns alle", daß wieder Neonazis in einem deutschen Parlament säßen. Die Demokraten müßten die Auseinandersetzung "offensiv und überzeugend" angehen. "Wir dürfen denen unsere Sprache und unsere Plätze nicht überlassen!"

Bei der Gedenkstunde im Bundestag sprach auch Arno Lustiger (80), der nach dem Abtransport aus Auschwitz zwischen Januar und Mai 1945 noch mehrere Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt hatte. Der 1924 in Polen geborene Buchautor ist Mitbegründer der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt. Er erinnerte an den "weithin unbekannt gebliebenen Widerstand der Juden Europas". Die Beschuldigung, sich nicht gewehrt zu haben, sei eine Verleumdung der Opfer, sagte Lustiger und nannte als ein Beispiel den Aufstand der Häftlinge des Sonderkommandos (Soko) in Auschwitz.

Zum Abschluß der Gedenkstunde trug der Liedermacher Wolf Biermann, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde, Gedichte und Lieder aus dem "Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk" vor - ein Werk des jüdischen Dichters Izchak Katzenelson, der ebenfalls in Auschwitz getötet wurde. Biermann hatte das Klagelied gemeinsam mit Arno Lustiger aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt.