Trauerfeier in der “Hölle auf Erden“. Köhler warnt Deutsche vor neuem Antisemitismus.

Auschwitz. "Es ist, als ob wir noch immer die Schreie der Toten hören könnten", sagte der israelische Staatspräsident Moshe Katzav an jenem Ort, an dem mindestens eine Million Juden ermordet wurden. Auschwitz-Birkenau sei der schrecklichste Ort der Menschheitsgeschichte.

In einer bewegenden Zeremonie haben gestern Überlebende des Holocaust und führende Politiker aus 40 Staaten der Welt der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers vor 60 Jahren gedacht.

Rund 10 000 Gäste, darunter etwa 1000 frühere Auschwitz-Häftlinge, versammelten sich bei heftigem Schneefall an der Gedenkstätte, die zwischen den Lagern Auschwitz und Birkenau liegt. Auch Bundespräsident Horst Köhler war gekommen.

Der Pfiff einer Lokomotive - als Symbol für die Todeszüge mit Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und politischen Gegnern des NS-Regimes, die in das Lager rollten - eröffnete die Trauerfeier. Auf den Schienen brannten Kerzen. "Erinnern wir uns, daß wir am größten Friedhof der Welt sind", sagte Polens Kulturminister Waldemar Dabrowski.

Die ehemalige französische Ministerin und Holocaust-Überlebende Simone Veil, die mit Präsident Jacques Chirac gekommen war, mahnte im Namen der jüdischen Opfer, die Menschen müßten sich vereinen "gegen Haß, Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz". "Was wäre aus ihnen geworden - aus den Millionen jüdischer Kinder, die in ihrer Kindheit und Jugend ermordet wurden, hier oder in den Gettos oder in anderen Todeslagern?" fragte Veil, die in Auschwitz die Häftlingsnummer 78651 trug. "Ich weiß nur, daß ich weine, wann immer ich an sie denke, und daß ich sie niemals vergessen werde."

Der frühere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, als junger Mann ebenfalls Häftling in Auschwitz, sagte: "Als ich im September 1940 auf dem Appellplatz von Auschwitz stand, als Schutzhäftling Nummer 4427, hätte ich niemals gedacht, daß ich Hitler oder den Zweiten Weltkrieg überleben würde." Die letzten noch lebenden Häftlinge von Auschwitz hätten ein Recht zu glauben, daß ihr Leiden in dem Nazi-KZ nicht umsonst gewesen war und den Weg für eine bessere Zukunft aller Völker in Europa vorbereitet habe.

Der Erzbischof von Paris, Jean-Marie Kardinal Lustiger - ein vom Juden- zum Christentum konvertierter Cousin des jüdischen Historikers Arno Lustiger, der gestern vor dem Bundestag sprach - erklärte im Namen von Papst Johannes Paul II., der Versuch der systematischen Zerstörung des jüdischen Volks werde "immer wie ein Schatten über Europa und der Welt liegen".

Bundespräsident Horst Köhler rief dazu auf, die Erinnerung an das größte Verbrechen der Menschheit in Auschwitz wachzuhalten. "Wir müssen daran arbeiten, daß sich so etwas nicht wiederholt", sagte Köhler nach einem Rundgang durch Auschwitz. Eine Rede des Bundespräsidenten bei der Trauerfeier war nicht vorgesehen.

Köhler warnte vor einem neuen Antisemitismus, den es nicht nur in Deutschland gebe. "Verstöße gegen Menschenrechte gibt es überall auf der Welt. Wer Auschwitz gesehen hat, muß wissen, daß man dagegen aktiv angehen muß." Köhler zeigte sich hoffnungsvoll, daß immer mehr Jugendliche aus aller Welt zur Gedenkstätte von Auschwitz kommen. Die Deutschen im besonderen müssen sich nach Worten Köhlers darum kümmern, daß Antisemitismus nicht wieder hochkommt. "Aber auch, daß wir ein verläßlicher Partner Israels sind in seinem Kampf um sein Existenzrecht." Der Auftrag für heute sei auch, dafür zu sorgen, "daß sich Dinge wie in Ruanda oder auch an anderen Stellen nicht wiederholen".

Auch Polens Präsident Aleksander Kwasniewski und sein russischer Kollege Wladimir Putin sowie US-Vizepräsident Dick Cheney waren gestern nach Auschwitz gekommen. "Wir müssen sprechen, erinnern, hinausschreien: Hier war die Hölle auf Erden", sagte Kwasniewski.

Stunden zuvor hatten zahlreiche Politiker an einem Forum zum Holocaust in Krakau teilgenommen. Anatoli Schapiro, der frühere Sowjet-Kommandeur, der mit seinen Soldaten am 27. Januar 1945 das Lager befreit hatte, rief per Videoschaltung aus den USA dazu auf, Ähnliches niemals wieder geschehen zu lassen.