In Ägypten wird gewählt - doch nach dem Sturz des Diktators ist die Aufbruchstimmung einer Unzufriedenheit und Unsicherheit gewichen.

Schon um 8 Uhr morgens standen Hunderte von Wählern in langen Schlangen vor den Wahllokalen in Kairo und Alexandria. Für viele ist es eine Premiere: Seit Jahrzehnten verbanden sie Wahlen mit Bestechung, Einschüchterung, Fälschung und verbotenen Parteien. Diesmal soll alles anders sein: Mehr als 50 zugelassene Parteien und 6000 Kandidaten werben um die Stimmen der 50 Millionen Ägypter , und die Wahl soll der Auftakt zur Demokratisierung des Landes werden. "Es ist Zeit, dass wir die Sitze auf den Zuschauerrängen verlassen und die nächste Szene selbst gestalten", schrieb Alaa al-Aswani, Romancier und Wortführer der Oppositionsgruppe Kifaya.

+++Tumulte und Misshandlungen in Kairo+++

Aber neun Monate nach dem "Frühling auf dem Tahrir-Platz" fällt die Wahl in eine Zeit der Polarisierung, Unsicherheit und Unzufriedenheit . Für viele ist die ersehnte Demokratisierung ins Stocken geraten. Die Wirtschaft des Landes liegt brach, die Zahl der Touristen ist auf ein Zehntel des Vorjahres geschrumpft. Investoren ziehen sich zurück. Vor einer Woche musste die Börse in Kairo den Handel aussetzen, nachdem ihr Leitindex um fünf Prozent abgestürzt war.

Nach einer im September veröffentlichten Studie des Internationalen Friedensinstituts sieht nur noch jeder zweite Ägypter sein Land auf dem richtigen Weg. Das gilt nicht nur für die "Generation Facebook" in Kairo, die den Aufstand wesentlich mitgetragen hatte. Auch der Mittelstand ist unzufrieden. "Wir haben in Ägypten ein Sprichwort, um die Situation zu beschreiben: Ein Blinder führt einen Mann, der nicht sehen kann", sagt Nader Hegazy, leitender Angestellter in einem Kairoer Lebensmittelunternehmen. Im Februar hatte das Abendblatt über ihn und seine Familie berichtet. Damals herrschte Ausnahmezustand, Schulen und Universitäten waren geschlossen, die drei Kinder mussten zu Hause bleiben.

Inzwischen habe sich zwar das Alltagsleben normalisiert, sagt Hegazy heute. Aber seit der Entmachtung Mubaraks wurde von der Übergangsregierung "nicht eine einzige gute Entscheidung gefällt. Produktion, Gehälter, Importe und Konsum sind zurückgegangen. Das ist leider einfach eine Folge der schlechten Entwicklung", sagt Hegazy, "und ich glaube nicht, dass sich das bald ändern wird."

Seit Wochen ist die Frustration über den politischen Kurs des Obersten Militärrats und dessen Vorsitzenden, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, gestiegen. Schon die Wahlplanung hat bei vielen Ägyptern den Verdacht geschürt, dass der Militärrat die Demokratisierung verzögern will. Die Wahl wird sich über drei Etappen hinziehen: Seit gestern wählen Kairo, Alexandria und sieben Provinzen, Mitte Dezember folgen neun weitere Provinzen, die übrigen Anfang Januar. Offizielle Begründung ist, dass es sonst nicht genügend Richter gäbe, die den Urnengang überwachen, und dass die Sicherheit bei drei Etappen besser gewährleistet sei. Soldaten und Polizisten haben die Wahllokale abgesichert.

+++Amnesty: Ägyptens Militärs schlimmer als Mubarak+++

Versprochen hatte das Militär anfangs etwas anderes: Es wolle spätestens sechs Monate nach dem Sturz des Diktators Mubarak die Macht an eine gewählte Regierung abgeben. Jetzt wird es erst am 13. Januar ein gewähltes Parlament geben, und die Präsidentschaftswahlen sollen erst im Juni folgen. Für Unmut hatten auch die Pläne des Militärs für Ägyptens zukünftige Verfassung gesorgt: Es will sich Entscheidungsbefugnis in Haushalts-, Verwaltungs-, Justiz- und Verteidigungsfragen sichern. Das trieb sogar die eher vorsichtigen Muslimbrüder auf die Straße. "Wir haben Mubarak gestürzt und Tantawi bekommen", stand auf Protestplakaten bei den Demonstrationen der vorigen Woche. An einem Laternenmast auf dem Tahrir-Platz hing eine Tantawi-Puppe wie ein Gehenkter.

Das Militär habe zwar Mubaraks Regierungspartei aufgelöst und ein paar korrupten Politikern den Prozess gemacht, sagt Annette Büchs, Ägypten-Expertin des Hamburger Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA). "Aber gleichzeitig sind 12 000 Zivilisten vor Militärgerichte gestellt worden - Blogger, Journalisten, Aktivisten, die das Militär kritisierten. Hinzu kommen Gerüchte, dass Tantawi Ambitionen haben soll, Präsident zu werden. In den Verlautbarungen des Militärrats fällt auch auf, dass vermehrt von der 'Unfähigkeit ziviler Regierungen' die Rede ist." Das Militär war ein Profiteur des Mubarak-Regimes. Es besitzt Land und große Unternehmen in Ägypten, hat also etwas zu verlieren.

Aber kann es den Demokratisierungsprozess noch verzögern? "Das Militär braucht irgendeine Anbindung an das Volk", sagt Büchs. "Und anders als Syriens Militär steht es unter Druck von außen: Die USA zahlen jährlich zwei Milliarden US-Dollar Entwicklungs- und Militärhilfe an Ägypten." Sie schließe aber nicht aus, dass das Militär "massive Repression" einsetzen könnte, um seinen Einfluss zu sichern.

Viele Ägypter fühlen sich zurzeit politisch überfordert. Das Wahlverfahren mit einer Mischung aus Mehrheits- und Listenwahlrecht ist kompliziert. Zwei Drittel der Parlamentarier werden über Parteien und Koalitionslisten gewählt, ein Drittel sind unabhängige Kandidaten (die aber auch einer Partei angehören können). Mindestens die Hälfte der Abgeordneten müssen Arbeiter oder Bauern sein. Die Wahl wird zum Wettbewerb zwischen dem islamischen Lager und eher liberalen Gruppen, die für die Trennung von Religion und Politik eintreten.

Aber auch das Lager der Islamisten ist kein monolithischer Block. Neben der Muslimbruderschaft, der die besten Chancen eingeräumt werden, gibt es als größere Gruppen auch die strenggläubigen Salafisten und die radikale Gruppierung Gama'a al-Islamiya. Zwischen ihnen und den vielen neu gegründeten Parteien der säkularen, liberalen und linken Kräfte besteht eine tiefe Spaltung. Die weltlich orientierten Jugendorganisationen - die "Internet-Elite" - schafften es bisher nicht, genug politische Schlagkraft oder Breitenwirkung zu entwickeln.

Stehen die Inhalte des Aufstands also zur Disposition? Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sieht die Muslimbruderschaft vor einem Realitätstest. In Mubaraks autoritärem System wurde die Muslimbruderschaft quasi von außen zusammengeschweißt - das ist vorbei: "Sie muss politikfähig werden, und sie wird, wenn sie Regierungsverantwortung übernimmt, an ihren Leistungen gemessen werden", schreibt Perthes in seinem jüngsten Buch "Der Aufstand - Die arabische Revolution und ihre Folgen". Vor allem: Mit der Pluralisierung des politischen Lebens pluralisiere sich auch das politisch-islamische Lager. Schon machten sich einzelne Gruppen der Muslimbrüder selbstständig und gründeten eigene Parteien - vor allem junge Leute, denen die alten Männer zu wenig auf die drängenden Themen der jungen Generation eingehen. Der sind Experten in Wirtschaft und Handel wichtiger als Islamvorschriften.

Etwas anders gewichtet es der Nahostexperte Kai Hafez, der gerade ein halbes Jahr in Kairo geforscht hat. Zwar wollten die Menschen in den arabischen Staaten schon seit vielen Jahren Parlamentarismus, Wahlen und Gewaltenteilung. "Aber der Islam und die Demokratie gehören dort zusammen - Säkularismus und die Gleichstellung von Religionen waren auch für Europas Demokratien ein längerer Lernprozess, der zum Teil bis heute anhält", sagt er dem Abendblatt. Nach Jahren der Diktatur müssten Länder wie Ägypten und Tunesien erst Institutionen, Parteien und eine Kultur der politischen Auseinandersetzung ausbilden. "Deutschland musste die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg auch erst lernen. Wir müssen den Menschen in den arabischen Staaten Zeit geben", sagt Hafez.