Was bedeutet der Wahlsieg der islamistischen Partei Ennahdha für die Rechte der Frauen in Tunesien? Was für die Wirtschaft und den Tourismus?

Zornig bin ich - und traurig zugleich", sagt Moufida Abassi sichtlich getroffen. "Die Wahlen sind eine Katastrophe." Die langjährige Redakteurin des tunesischen Fernsehens meint den Wahlsieg der Partei Ennahdha. Die Islamisten erlangten 40 Prozent der Stimmen bei dieser historischen Wahl in Tunesien. Mehr als 90 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich an den ersten freien Wahlen in dem Land, in dem der Arabische Frühling im Dezember 2010 begann und sich wie ein Lauffeuer auf Ägypten, Libyen, Syrien und den Jemen ausbreitete. "Es ist nicht nur Ennahdha alleine", beginnt die Journalistin Abassi ihre Aufgeregtheit zu erklären. "Heshmi Hamdi, ein Ex-Mitglied, hat mit seiner unabhängigen Liste al-Arida zehn Prozent erreicht. Er wird mit Ennahdha koalieren und zusammen sind sie dann noch stärker. Wer weiß, wo das hinführt."

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Abassi hat in erster Linie um die Rechte der Frauen Angst, deren Gleichberechtigung, im Gegensatz zu anderen arabischen Ländern, im tunesischen Gesetzbuch festgeschrieben ist. "Mit Ennahdha könnte das zu Ende gehen."

Deshalb war die Redakteurin unter den Demonstranten, die vor dem Gebäude des Wahlausschusses (ISIE) in Tunis demonstrierten. Grund dafür: Mitglieder von Ennahdha hätten vor Wahllokalen Druck ausgeübt, ihnen ihre Stimme zu geben. "Das muss sanktioniert werden", meint Abassi.

Die Reaktionen der Journalistin mögen übertrieben sein, spiegeln aber den Graben innerhalb der tunesischen Gesellschaft wider. Die Säkularisten befürchten, die Islamisten werden das laizistische Prinzip des seit 1957 bestehenden Staates aushebeln.

Der Wahlausgang in Tunesien gilt weltweit als Barometer für die politische Stimmung in Ländern wie Ägypten und Libyen - und nach dem Wahlergebnis fragen sich nun nicht nur die Tunesier: Wohin steuert Tunesien?

Nach den Wahlen ist aber kein Grund zur Panik. Ennahdha hat nicht die absolute Mehrheit der Stimmen und ist gezwungen mit säkularen Parteien zu koalieren. "Wir sind die Sieger der Wahl und bereit, eine stabile Koalition einzugehen", versicherte Abdelhamid Jlazzi, der Wahlkampfmanager Ennahdhas, vor 300 begeisterten Anhängern, die sich vor dem Parteigebäude in Tunis eingefunden hatten. Sie riefen "Allah ist groß" und sangen die tunesische Nationalhymne. Als Koalitionspartner nannte Jlazzi die Kongresspartei der Republik (CPR) und Ettakatol (FDTL), die Zweit- und Drittplazierten.

"Ennahdha hat sicherlich die Mehrheit", kommentierte Khalil Zaouia, der Vizepräsident von Ettakatol, "aber es gibt noch zwei demokratische Elemente, die CPR und uns. Wir sind anfänglich schwach gestartet, aber nun beide in einer Position, das politische Leben mitzubestimmen und eine rationale Moderne in dieses arabisch-muslimische Land zu bringen." Der Präsident von Ettakatol, Mustafa Ben Jaafar, könnte der neue Übergangspräsident Tunesiens werden. Allerdings mit einem Islamisten als Premierminister und anderen Ennahdha-Vertretern in Schlüsselpositionen im Kabinett.

In Europa galt Tunesien in den vergangenen Jahrzehnten als arabisches Musterland und beliebtes Urlaubsziel. Die Sorge ist nun, dass mit dem Erfolg der Islamisten dieses Bild bröckeln könnte, mit möglicherweise katastrophalen Folgen für die Wirtschaft. Wer das Wahlprogramm der Ennahdha flüchtig durchblättert, sieht auf den ersten Blick keine besorgniserregenden Passagen. Ausdrücklich wird betont, dass man das Recht von Frauen auf Arbeit und die Kleidungsfreiheit wahren werde. Viel ist von Gleichbehandlung, individuellen Freiheiten und dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit die Rede. "Es ist Ihnen überlassen, ob Sie an Gott glauben. Sie können Alkohol trinken und Ihr eigenes Leben leben", sagte der 70-jährige Parteiführer Raschid Ghannouchi kurz vor der Wahl an die Adresse liberaler Tunesier.

."Wir haben bereits Ideen zur Regierung", meinte Said Ferjani vom Politikbüro Ennahdhas. "Wir sind nicht dogmatisch, sondern absolut pragmatisch. Wir werden eine breite nationale Einheitsregierung bilden. Wir müssen etwas für die Menschen in Tunesien tun und dabei müssen wir althergebrachte Vorurteile hinter uns lassen."

Nach diesem Wahlergebnis bleibt Ennahdha nichts anderes als Pragmatismus übrig. In der neuen Übergangsregierung geht es nur um die Verwaltung des Status quo. Einschneidende Maßnahmen und Entscheidungen dürfte es nicht geben. Denn zuerst muss die neu gewählte und 217 Sitze umfassende Versammlung eine Konstitution erarbeiten. Die erste Legislaturperiode dauert daher zunächst einmal nur ein Jahr. Erst wenn die Konstitution in einem Referendum angenommen ist, beginnt das normale politischen Leben. Es werden ein Präsident und danach ein Parlament gewählt, die über eine längere Legislaturperiode im Amt sind. Die Regeln dafür werden in der neuen Verfassung gelegt.

Für Ennahdha ist nun die Zeit gekommen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich besser als ihr schlechter Ruf ist. Ihr Präsident Raschid Ghannouchi hatte im Wahlkampf immer wieder versichert: "Wir werden die Rechte der Frauen nicht beschneiden. Im Gegenteil, wir wollen sie erweitern." Seine Partei würde alle demokratischen Werte respektieren und könne eine Balance zwischen Moderne und Islam finden. Als Vorbild betrachtet Ghannouchi vor allem die Türkei. Als Recep Tayyip Erdogan, der türkische Premier der islamisch-konservativen AKP, im September auf seiner Nordafrika-Tour in Tunesien haltmachte, organisierte Ghannouchi einen glänzenden Empfang.

Die Äußerungen des Ennahdha-Präsidenten scheinen auf einen Wandlungsprozess der Islamisten hinzudeuten. Unter Ben Ali versuchten sie noch mit Bombenattentaten die Welt zu verändern. Als Resultat wurden sie vom Regime verfolgt, gefoltert und zu langen Haftstrafen verurteilt. Auf der Wahlliste der Ennahdha sind Männer aufgeführt; rechnet man ihre Strafen zusammen, wird man auf weit mehr als 100 Jahre Gefängnis kommen.

Die Partei scheint aus dem Arabischen Frühling gelernt zu haben: Man gibt sich moderat und verzichtet auf radikale Rhetorik. Mit tumbem Extremismus lassen sich heute keine Mehrheiten mehr gewinnen. Die Menschen sind für Transparenz, Partizipation und Rechtssicherheit auf die Straße gegangen - nicht für neue Herrscher. Der Steinzeit-Islam der al-Qaida oder der Shabaab-Milizen in Somalia scheint ausgedient zu haben. Und nicht alle Ennahdha-Wähler sind für einen islamischen Staat, der möglicherweise auf der Scharia, dem islamischen Recht, basiert. "Für mich ist das Wahlergebnis perfekt", erklärt Mohammed Taib, ein Geschäftsmann aus Tunis, der die Islamisten gewählt hat. "Ennahdha ist gezwungen, mit anderen Parteien zu verhandeln. So gibt es eine Balance, die das Beste für Tunesien ist." Außerdem könne er da sicher sein, dass der Alkohol in Tunesien erlaubt bleibt. "Mit Ennahdha alleine an der Macht wäre es damit vorbei und ich möchte auf mein Bier nicht verzichten", fügt er lachend hinzu. "Wie die meisten Tunesier eben auch."