Bürgermilizen hielten die Jäger aus Schweden für Kämpfer des gestürzten Diktators und attackierten einige von ihnen.

Tunis. Eine Gruppe schwedischer Jäger ist in Tunesien vorübergehend festgenommen worden. Das wurde in diplomatischen Kreisen in Tunis bestätigt. In tunesischen Fernsehberichten am Vorabend war von festgenommenen Deutschen die Rede gewesen; dies hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Die Männer waren in Tunesien Wildschweine jagen gewesen, konnten wegen der Unruhen aber nicht ausreisen. Stattdessen hatten sie versucht, auf eigene Faust mit einem Taxi ins Zentrum zu fahren. Als Sicherheitskräfte den Wagen durchsuchten und die Waffen fanden, kam es zu einem Missverständnis:Die Uniformierten dachten, die Ausländer wollten sich an den Auseinandersetzungen beteiligen.

Die schwedische Reisegruppe wartete in einem Hotel auf ihre Ausreise, wie das Außenministerium in Stockholm mitteilte. Ihnen gehe es den Umständen entsprechend gut. Einer der Jäger hatte gesagt, die Gruppe sei in Taxis auf dem Weg zum Flughafen gewesen, als sie an einer improvisierten Straßensperre angehalten worden seien. Bei der Durchsuchung der Wagen seien ihre Gewehre entdeckt worden, daraufhin sei die Lage eskaliert. Die Gruppe sei vor zehn Tagen nach Tunesien gekommen, um Wildschweine zu jagen.

Zu Hunderten schlafen Reisende unterdessen am Flughafen verkrümmt in Plastiksitzen, auf ihren Koffern oder einfach am Boden. Hotelangestellte übernachten am Arbeitsplatz, Ladenbesitzer in ihren Geschäften. Die Ausgangssperre, die schon um 17 Uhr beginnt, kennt kein Pardon.

An allen Kreuzungen stehen Panzer, kontrollieren Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag. Entlang der Straßen sind es Polizisten, die mit entsicherten Pistolen in der Hand oder mit Maschinengewehren die wenigen Wagen kontrollieren, die nachts unterwegs sind. Wer sich zu Fuß nach draußen wagt und bei Anruf nicht mit verschränkten Armen hinter dem Kopf langsam auf die Knie geht, wird erschossen. In Tunesien herrscht der nächtliche Ausnahmezustand nicht ohne Grund. "Wir stehen hier nicht zum Spaß", erklärt ein Polizist mit schusssicherer Weste, der mit einem Kollegen an einer Ampel unweit des Flughafens von Tunis steht. "Es ist sehr gefährlich, lebensgefährlich", sagt er und fuchtelt theatralisch mit seiner Pistole herum.

Auch gestern Nacht gab es wieder Plünderungen und Brandstiftungen. Zum Teil in Geschäften und Firmen, die im Besitz der Familie von Ex-Präsident Zine al-Abidine Ben Ali sind, der am Freitag nach Saudi-Arabien geflüchtet war. In Tunis wurde eine Filiale der Zeitouna Bank angezündet, die sein Schwiegersohn gegründet hatte. In Flammen gingen auch Autos der Marken Kia, Fiat und Porsche auf, die in Tunesien von Mitgliedern der Präsidentenfamilie gehandelt wurden.

Berichtet wurde allerdings auch von Schüssen aus fahrenden Autos auf öffentliche Gebäude und Wohnhäuser. Zudem von mutwilligen Zerstörungen, "die eigentlich keinerlei Sinn machen", meint Tarik Chab Tarek Chaabouni, Parlamentsabgeordneter der Partei Bewegung der Erneuerung. "Ganz normale Fabriken im Industriegebiet von Tunis, die keinerlei Bezug zum ehemaligen Diktator Ben Ali haben, versuchte man zu zerstören. Und stellen Sie sich vor, in einigen Stadteilen verbrannte man Pflanzen und Bäume im großen Stil." Angst und Schrecken will man seiner Meinung nach damit verbreiten.

In Tunis haben sich Bürgermilizen gegen Übergriffe und Vandalismus gebildet. Sie sind mit langen Holzpfählen und Eisenstangen bewaffnet, errichten Barrikaden auf den Zugangsstraßen zu ihren Wohnvierteln. Nachts machen diese zum Teil vermummten Gestalten, die das Militär während der Ausgangssperre toleriert, einen martialischen Eindruck. Für die Journalistin Abassi Moufadi vom Staatsender TV7, den man nach dem Sturz Ben Alis kurzerhand in "Tunesisches Nationales Fernsehen" umbenannte, steht fest: Für den Großteil der nächtlichen Ausschreitungen sind Gefolgsleute des geschassten Präsidenten verantwortlich. "Es gibt Banden, die sich aus Polizisten, Leuten des Geheimdienstes und des Innenministeriums zusammensetzen", sagt sie. Das System existiere ja noch weiter und versuche mit allen Mitteln, die neuen gesellschaftlichen Veränderungen zu torpedieren. "Diese Gefolgsleute von Ben Ali haben viel zu verlieren: alle ihre Vorteile und Beziehungen, die sie zu Privilegierten machten", sagt sie mit hörbarer Schadenfreude.

Noch deutlicher wird Samir Taeibh, Juraprofessor an der Universität Tunis. "Diese Kerle wollen möglichst viel Chaos anrichten, um zu zeigen, wie sicher und gut es die Tunesier unter Ben Ali hatten." Wie ernst die Lage sei, zeige die Beschlagnahmung eines Krankenwagens in der gestrigen Nacht durch das Militär. "Er war voll mit Waffen. Die ganze Inneneinrichtung hat man dazu herausgerissen." Es gebe Hinweise, dass die alte Garde des Sicherheitsapparats von Libyen unterstützt werde. Ein sichtlich indignierter Muammar Gaddafi hatte im libyschen Fernsehen Ben Ali als einzig rechtmäßigen Präsidenten Tunesiens bezeichnet und seine eigenen Landsleute vor den grausamen Zuständen gewarnt: "Braven tunesischen Familien kann es mitten in der Nacht passieren, dass sie hingeschlachtet werden." Anscheinend fürchtet der libysche Präsident, das tunesische Beispiel könne auch in seinem Land die Menschen auf die Straße und gegen ihn aufbringen. Grund genug dazu gäbe es ja auch. Die Verhältnisse in Libyen sind nicht anders, als sie unter dem Regime Ben Alis in Tunesien waren: ein diktatorischer Staat, ohne Presse und Meinungsfreiheit, mit geringem Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung und einer hohen Arbeitslosigkeit, gerade unter jungen Menschen.

In Tunesien war am Sonnabend Fouad Mebazaa, der Sprecher des Parlaments, als neuer Präsident vereidigt worden. Das Oberste Gericht hatte entschieden, dass Artikel 57 der Verfassung anzuwenden sei, schließlich sei der Präsident Ben Ali nicht nur "temporär verhindert", sondern ganz aus dem Amt ausgeschieden. Nun müssten innerhalb von 45 und 60 Tagen Präsidentschaftsneuwahlen stattfinden.

"Das ist absolut nicht durchzuführen. Man braucht mindestens sechs Monate Zeit", erklärt Juraprofessor Samir Taeibh. "Zuerst muss eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet werden, die das bestehende Wahlrecht ändert." Bisher muss jede Partei, die einen Kandidaten stellt, eine Liste mit Unterschriften von mindestens 30 wohlgesonnenen Abgeordneten vorlegen, um an der Wahl teilnehmen zu können. "Bei den Mehrheitsverhältnissen im Parlament kann das für jede der Oppositionsparteien ein Stolperstein sein", sagt Samir Taeibh und verweist auf die 152 Sitze, die Ben Alis bisher regierende Partei RCD von insgesamt 189 innehat. Nun könne der neu vereidigte Präsident Fouad Mebazaa beweisen, wie ernst es ihm mit Veränderungen ist, meint Taeibh.

Großes Vertrauen hat er allerdings nicht. Schließlich waren der 77-jährige Fouad Mebazaa, wie auch sein Premierminister Mohammed Ghannouchi, zwei Jahrzehnte lang getreue Anhänger Ben Alis. "Man wird sehen, wie sie sich verhalten. Aber viele Alternativen bleiben ihnen nicht, als den demokratischen Übergang voranzutreiben. Sonst gehen die Proteste weiter."

Dieser Meinung ist auch die Fernsehjournalistin Abassi Moufida: "Die Leute wollen alles und lassen sich nicht mit halben Sachen abspeisen." Auch sie würde sofort wieder auf die Straße gehen. "Wir Tunesier haben viel zu viele Opfer gebracht. Das alte Regime hat uns unterdrückt und zum Schweigen gezwungen, Tag für Tag."

Ein Zeichen für eine positive Veränderung war gestern die Verhaftung des ehemaligen Innenministers Rafik Belhaj, der für das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten während der Proteste verantwortlich gewesen sein soll. General Ali Seryati, Ben Alis ehemaliger Sicherheitschef, sitzt bereits in Haft. Er soll wegen "Bedrohung der nationalen Sicherheit" und "Aufwiegelung zur bewaffneten Gewalt" vor Gericht gestellt werden. Ein Anlass für große Erleichterung ist das für die meisten Tunesier nicht. Diktaturen verschwinden nicht von einem Tag auf den anderen - dieser Prozess braucht Jahre.

Im Zentrum von Tunis sind jetzt hektische Schreie und immer wieder Schüsse zu hören. Und das mitten am Nachmittag. Die gespannte Stimmung erfasst jeden. Die meisten Läden sind geschlossen oder machen nur für wenige Stunden auf. Es gibt kein Benzin mehr, Wasserflaschen und einige Lebensmittel werden knapp. Um 17 Uhr tritt erneut die Ausgangssperre in Kraft. Was die Nacht bringt, wird sich zeigen. (dpa)