Auf der Krim belauern sich Ukrainer und Russen. Beide wollen nicht aufeinander schießen. Doch Bürgerwehren heizen die Stimmung auf

Kertsch. Der ukrainische Major Alexej Nikiforow lächelt geduldig den wütenden Menschen zu, die ihm immer wieder die gleichen Fragen stellen. Hält er Viktor Janukowitsch für einen legitimen Präsidenten der Ukraine? Will er dem Volk der Krim treu sein? Nikiforow ist stellvertretender Leiter einer Einheit bei der Stadt Kertsch im Osten der Halbinsel Krim. Hier ist ein Marineinfanterie-Bataillon stationiert. Vor drei Tagen kam ein Militärlaster mit russischen Soldaten, die sich vor das Tor der Kaserne stellten. Sie halten hier immer noch Wache mit Kalaschnikows und schauen still der Szene zu, die sich vor dem Eingang zum Militärgelände abspielt.

Ein Dutzend Aktivisten der Partei Russische Einheit steht vor Nikiforow. Die Gruppe hat eine russische Fahne und die Fahne der Republik Krim dabei. Sie fordert, dass die ukrainische Einheit ihre Waffen an die russischen Soldaten abgibt. „Werden Sie auf uns schießen?“, wiederholen die Russen, die sich vor der Einheit versammelt haben. Sie sagen, ukrainische Soldaten müssen ihre Waffen abgeben, damit sie nicht in den Händen von Banditen oder Nationalisten landen, die auf die Bevölkerung schießen werden. „Sie sprechen mit Floskeln“, seufzt Nikiforow, ein lebensfreudiger Mann mit einer schwarzen Baskenmütze. „Wenn ich meine Waffen nicht an diese Menschen mit Maschinengewehren abgegeben habe, werde ich sie auch nicht an jemanden anderen abgeben.“

Er versucht, die Menschen zu überzeugen, nach Hause zu gehen. Vergeblich. Sie waren schon am Montag hier. Seit dem Dienstagmorgen sind sie erneut hier und wollen sich keine Argumente anhören. „Sie bekommen einen Befehl aus Kiew und gehen mit Ihren Waffen gegen uns vor“, klagt eine Frau. Nationalisten in der neuen ukrainischen Regierung steckten dahinter, davon ist sie überzeugt. „Uns wird eine nazistische Ideologie aufgezwungen. Man sagt, dass Russen die Krim verlassen müssen“, fährt die Frau fort. „Das ist Unsinn, wo haben Sie das gehört?“, antwortet der Major. Als er ein ukrainisches Wort benutzt, schreien ihn Frauen an: „Sprechen Sie Russisch!“

„Bist du für das Volk der Krim oder das Volk der Ukraine?“, fragt den Major ein dicker Mann mit einer roten Schirmmütze. „Das Volk der Krim ist das Volk der Ukraine“, erwidert der Major. „Nein, eben nicht, und das seht ihr in einem Monat“, sagt der Mann. Nikiforow sagt, er schwöre, die Armee stehe hinter dem Volk, und er werde nicht auf die Bevölkerung der Krim schießen lassen. „Ich wohne selbst auf der Krim und habe zwei Kinder, die hier geboren sind“, erzählt er. „Ich bin Halb-Russe und Halb-Ukrainer. Fast alle meine Verwandten leben in Russland und meine Mutter in der Ukraine.“

Die prorussischen Aktivisten, die sich hier versammelt haben, wollen, dass er der neuen Regierung der Krim Treue schwört. „Eine nicht legitime Regierung sagt mir jetzt, ich muss meine Waffen ablegen und die Treue einem Staat schwören, den es nicht gibt“, empört sich der Major. Der Interimspräsident Alexander Turtschinow sei sein Oberbefehlshaber. Janukowitsch hält er nicht nicht mehr für einen legitimen Präsidenten.

Die Aktivisten der Partei Russische Einheit wären sicherlich nicht so aufdringlich, wenn vor der Einfahrt der Kaserne keine russischen Soldaten stehen würden. „Sie sind hier auf Einladung der legitimen Regierung der Krim“, behauptet jetzt der Mann mit der roten Mütze. „Die Regierung der Krim darf keine Armee einladen“, antwortet ihm der Major. Die Soldaten tragen wie überall auf der Krim in diesen Tagen keine Hoheitszeichen; ihr Laster hat russische Kennzeichen. „Das sind professionelle Soldaten der Russischen Föderation, unsere Brüder, die Marineinfanterie“, sagt der Major Nikiforow. Und die Soldaten sagen selbst, dass sie zu einer Einheit der russischen Schwarzmeer-Flotte gehörten, die in der Krim-Stadt Sewastopol stationiert sei. In den drei Tagen hat es hier keine Gewalt gegeben; das Gelände der ukrainischen Einheit wurde nicht gestürmt. Es gab auch keine Verhandlungen. Aber Befehlshaber der Einheiten kommunizierten miteinander „auf der menschlichen Ebene“, heißt es.

Aus Kiew bekomme man dieser Tage die Ansage, nicht auf Provokationen zu reagieren, erzählt Major Nikiforow. Einige Verwirrung habe es am Sonntag gegeben, als plötzlich vom damaligen Marinechef Denis Beresowski ein Befehl kam, alle Waffen abzugeben. Beresowski war zu diesem Zeitpunkt nur einen Tag lang im Amt gewesen. „Uns wurde klar, dass etwas nicht stimmt. Ein Offizier kann nicht einfach so einen solchen Befehl geben“, erzählt Nikiforow. Dann hätten sie gesehen, dass Beresowski auf die Seite der Republik Krim übergelaufen ist.

„Wir glauben jetzt nicht sofort den Befehlen, die aus dem Stab kommen, sondern rufen andere Einheiten an und prüfen sie noch mal nach“, sagt Nikiforow. Er steht auch mit anderen belagerten Einheiten auf der Krim im Kontakt; er ist sicher, dass es keine Überläufer gibt. „Keine Einheit hat bis jetzt die Seiten gewechselt, obwohl hier und da ein Munitionslager übernommen wurde“, sagt der Major. Er selbst werde auf keinen Fall der Krim-Regierung die Treue schwören.

So relativ friedlich wie in Kertsch geht es in diesen Tagen nicht überall auf der Krim zu. Auf dem Flughafen Belbek nahe der Stadt Sewastopol feuerten am Dienstagmorgen russische Soldaten in Luft. Der Grund: Unbewaffnete ukrainische Soldaten kamen mit einer ukrainischen und einer sowjetischen Fahne auf sie zu und forderten das von den Russen übernommene Militärlager zurück. In der Stadt Feodossija wird indes ein ukrainischer Militärposten von drei russischen Schützenpanzern umstellt; vorher hatten russische Truppen hier mit einem Sturm gedroht, die Lage ist angespannt. Auch hier sind Aktivisten der Partei Russische Einheit zu sehen. Sie haben Zelte mit ihren Symbolen aufgestellt: ein roter und ein blauer Adlerkopf. Die Frauen und Männer verhalten sich sehr aggressiv und lassen keine westlichen Journalisten zu den ukrainischen Soldaten. „Unser Präsident ist Putin“, sagt einer der Aktivisten.

Die Partei Russische Einheit war bis vor Kurzem wenig bekannt; bei der letzten Parlamentswahl auf der Krim bekam sie lediglich vier Prozent der Stimmen. Doch inzwischen ist Sergej Aksjonow, der Chef der Partei, Premierminister der Krim. Seine Aktivisten sind überall auf den Straßen und vor ukrainischen Militärposten zu sehen, um russische Soldaten zu unterstützen.