Ägypten hat in einer ersten Runde über die neue Verfassung abgestimmt. In mehreren Regionen sollen Aktivisten eingeschüchtert worden sein.

Istanbul/Kairo. Der erbitterte Richtungsstreit zwischen Islamisten und Opposition um die Zukunft Ägyptens hat die Wähler in Scharen in die Wahllokale gelockt. Rund 26 Millionen Wahlberechtigte waren am Sonnabend in einer ersten Runde aufgerufen, über den umstrittenen Entwurf der ersten Verfassung seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Husni Mubarak vor knapp zwei Jahren abzustimmen. Eine zweite Runde folgt in einer Woche in anderen Provinzen. Die Islamisten und Anhänger von Präsident Mohammed Mursi rechnen mit einer deutlichen Mehrheit für das von ihnen erarbeitete Regelwerk, das mehr Einfluss von Religionsgelehrten vorsieht. Damit würden sie den seit Wochen andauernden Machtkampf für sich entscheiden.

Wegen des großen Andrangs blieben die Wahllokale bis 22.00 Uhr MEZ geöffnet und damit vier Stunden länger als zunächst geplant. Die Wahlkommission rechnete mit einer Wahlbeteiligung von mehr als 50 Prozent. Die Opposition beklagte Übergriffe von Islamisten und zahlreiche Wahlrechtsverstöße. Sie hatte ihre Anhänger aufgerufen, mit Nein zu stimmen.

Um Zusammenstöße zwischen Islamisten und Oppositionellen zu vermeiden, sicherte nach offiziellen Angaben eine Großaufgebot von 300 000 Sicherheitskräften die Wahllokale ab. Darunter waren 130.000 Polizisten. Nach blutigen Ausschreitungen im Vorfeld des Referendums blieb es am Wahltag deutlich friedlicher: Ägyptischen Medienberichten zufolge wurden landesweit 19 Menschen bei Unruhen und Schlägereien verletzt. Laut Staatsfernsehen kam ferner eine Frau im Gedränge ums Leben, die im Kairoer Nobelstadtteil Samalek ihre Stimme abgeben wollte. Auch aus der Provinz Assiut wurde ein Todesopfer gemeldet. Grund war eine Familienfehde.

In der Hauptstadt Kairo attackierten hunderte Islamisten die Zentrale der liberalen Wafd-Partei. Wie das Online-Portal „Egypt Independent“ berichtete, griffen sie das Gebäude am Abend mit Feuerwerkskörpern an. Schüsse seien zu hören gewesen und Tränengasgranaten geflogen. Die Parteimitglieder verrammelten die Türen, wie ein Wafd-Mitarbeiter dem Staatsfernsehen sagte.

Oppositionelle Richter beklagten, dass 26 Wahllokale in Kairo, Alexandria und zwei weiteren Provinzen ohne juristische Aufsicht gewesen seien. Das Justizministerium wies dies zurück. Aus mehreren Regionen wurde über die Einschüchterung von Aktivisten durch bärtige Männer berichtet. In Alexandria übernahmen laut Zeitung „Al-Ahram“ an einer Schule Salafisten die Wahlaufsicht und sagten den Wählern, sie sollten mit Ja stimmen. Insgesamt wurde in zehn Provinzen gewählt, weitere 17 mit rund 25 Millionen Wählern sollen am kommenden Samstag nachziehen.

Der Verfassungsprozess hat das bevölkerungsreichste arabische Land tief gespalten. Die Opposition wirft den Islamisten vor, sie wollten Ägypten in Richtung Gottesstaat lenken. Viele Anhänger von Präsident Mursi wünschen sich genau das und sehen in dem Referendum eine Abstimmung für oder gegen den Islam.

Der Entwurf war von den islamistischen Muslimbrüdern mit Unterstützung der radikalen Salafisten im Eiltempo erarbeitet und durchgeboxt worden. Linke und Liberale sowie die Christen verließen aus Protest das Gremium, in dem der Verfassungsentwurf erarbeitet worden war. Aus ihrer Sicht handelt es sich um eine Verfassung für die Islamisten und nicht das ganze ägyptische Volk.

Wird der Verfassungsentwurf angenommen, muss innerhalb von zwei Monaten ein neues Parlament gewählt werden. Das erste nach dem Sturz von Mubarak gewählte Unterhaus wurde im Sommer von einem Gericht aufgelöst. Dort hatten die Islamisten eine deutliche Mehrheit. Lehnt eine Mehrheit der Wähler den Entwurf ab, muss eine neue Verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Diese hat dann sechs Monate Zeit, einen Entwurf zu erarbeiten.

Die Stimmen aus der ersten Runde sollen in den kommenden Tagen ausgezählt werden. Unklar ist, ob oder wann vorläufige Ergebnisse bekanntgegeben werden. Die Opposition hat vor einer Veröffentlichung gewarnt, weil damit aus ihrer Sicht die Abstimmung in der kommenden Woche beeinflusst werden könnte. Die Aufteilung in zwei Wahlrunden wurde wegen eines Boykotts von Richtern notwendig. Es fanden sich nicht genug Richter, um das Referendum an einem Tag landesweit zu überwachen.