Der Nahost-Experte Michael Lüders spricht im Abendblatt-Interview über die Scharia und die gespaltenen Erwartungen in Ägypten.

Hamburger Abendblatt: Ist Ägyptens neuer Verfassungsentwurf islamistisch geprägt?

Michael Lüders: So deutlich würde ich es nicht sagen. Teile dieses Entwurfs sind völlig in Ordnung und mit Blick auf die Scharia sagt er nicht viel anderes aus als die alte Verfassung. Aber der Entwurf macht auch nicht klar, in welche Richtung Ägypten sich bewegen will, wie man zum Beispiel mit Minderheitenrechten umgehen will, die Rolle der Frau ist nicht klar definiert. Darüber hätte man länger diskutieren müssen.

Was wollen die Muslimbrüder mit diesem Entwurf erreichen?

Lüders: Sie sind sehr daran interessiert, ihren Fußabdruck zu hinterlassen. Sie wollen das mit großer Eile tun, und darin liegt ihr großer Fehler. Ein Grund ist, dass sie 80 Jahre lang im Untergrund gewirkt haben und in dieser Zeit von einer kleinen Führungsgruppe geleitet wurden, die ihre Entscheidungen relativ geheimniskrämerisch gefällt hat. Jetzt haben wir eine neue Zeit, und die Muslimbrüder haben noch nicht verinnerlicht, dass über viele Fragen jetzt offen diskutiert werden muss. Sie müssten sich vollständig reloaden.

Welche Bedeutung hat die Scharia in den Ländern der Arabellion?

Lüders: Vor allem ein symbolische. So wie für uns die freiheitlich-demokratische Grundordnung, so ist die Scharia für konservative fromme Muslime einfach ein wichtiger Bezugsrahmen, obwohl sie vielfach nicht genau sagen können, was genau sie damit meinen. Es gibt ja kein einheitliches Modell der Scharia. In der Praxis organisiert sie häufig noch das Familien- und Erbrecht, während alle anderen Rechtsbereiche von säkularen Rechtsformen geregelt werden, etwa das Handelsrecht. Wenn es Streit mit Siemens in Ägypten gibt, würde kein ägyptischer Richter auf die Idee kommen, Bestimmungen der Scharia anzuwenden.

Für die islamistischen Parteien und Gruppen ist die Scharia ein Muss, eine Kampfparole. Ist sie eine Art Modernisierungsabwehr?

Lüders: Auf jeden Fall. Im Verständnis der Salafisten und sehr konservativer Muslime ist sie ein Abwehrmechanismus gegen die Moderne, gegen den „westlichen Lebensstil“, und soll zu den eigenen Wurzeln zurückführen. In der Praxis funktioniert das nicht. Das wissen die Muslimbrüder auch. Sie werden nicht sagen: Die Scharia ist uns egal. Aber Mursi geht es nicht um die Scharia, sondern darum, die Machtposition der Muslimbrüder zu festigen.

Rechnen Sie damit, dass der Verfassungsentwurf angenommen wird?

Lüders: Ja, da bin ich sicher. Aber die Verfassung wird eine vorübergehende sein und wieder verändert werden. Nach der Französischen Revolution 1789 haben die Franzosen 80 Jahre gebraucht, bis sie 1875 in der dritten Republik endlich eine dauerhafte Verfassung hatten, die im Kern noch heute gültig ist. Man darf nicht zu ungeduldig sein. Es ist ein komplizierter Prozess. Nur: Ägypten hat nicht so viel Zeit. Es muss die wirtschaftliche Krise anpacken, um nicht zahlungsunfähig zu werden.