EU-Politiker im Wettstreit, wer als Erster die Auszeichnung anfassen darf. Kanzlerin Merkel lässt Brüsseler Verantwortlichen den Vortritt.

Oslo. Einzigartig sei das europäische Projekt, sagt EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nach der Entgegennahme des Friedensnobelpreises. Er benutzt das Wort gleich dreimal, zweimal in Bezug auf die EU und ein drittes Mal in Bezug auf den Menschen als solchen. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, der vor ihm spricht, kommt ohne den Begriff aus. Einzigartig ist ja bereits die Preisverleihungszeremonie, das sieht jeder.

Denn wer hat den Preis eigentlich bekommen? Die drei Vertreter der EU auf dem Podium im Rathaus zu Oslo, die ihn gleich entgegennehmen werden - Kommissionspräsident Manuel Barroso (mit übereinandergelegten Händen), Ratspräsident Herman Van Rompuy (Hände halb gefaltet) und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (ganz gefaltete Hände)? Oder die 26 EU-Regierungschefs im Auditorium, denen der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, Thorbjørn Jagland, den Großteil seiner Eingangsrede widmet?

Jagland hebt die Anwesenheit François Hollandes und Angela Merkels hervor, die nebeneinandersitzen. Das Auditorium applaudiert, die anderen Regierungschefs applaudieren, François Hollande applaudiert, Barroso applaudiert eher vorsichtig mit den Fingern in die Handteller. Rompuy klatscht mit feingliedrigen Händen so sehr, dass seine eleganten Finger jenseits der Handkanten hin- und herklappen.

Schulz applaudiert klar und ziemlich deutsch - nur Angela Merkel applaudiert nicht. Sie, in der DDR aufgewachsen, hasst Selbstbeweihräucherung. So wirkt der Beifall einige Sekunden lang wie Lob für Merkel, was diese nickend zur Kenntnis nimmt, bis Hollande ihre Hand ergreift, aufsteht, Merkels und seinen Arm hochreckt und mit sportlicher Siegergeste Gemeinsamkeit demonstriert.

Erst dann folgt, was kommen muss: ein weiterer kleiner Wettkampf zwischen den beiden Preisrednern, diesmal darum, wer als Erster die Auszeichnung anfassen darf. Rechts vom Rednerpult sitzen in einigen Metern Entfernung der Reihenfolge nach Barroso, Van Rompuy und Schulz. Doch als der große Augenblick naht, erhebt Rompuy sich um eine Sekunde schneller als Barroso, langt am Rednerpult als Erster an, steht Jagland so am nächsten und kann die Hand auf die Urkunde legen, bevor Barroso sie ergreift und präsentiert.

Ist das von Bedeutung? In Brüssel durchaus. Parlamentspräsident Martin Schulz erhält dafür ganz für sich die Medaille. Sie befindet sich in einem Kästchen, und Schulz klappt es bewegt auf und zu. Er ist nach der Preisüberreichung zum Applaudieren verdammt, eine Rolle, die er nicht gesucht hat, die aber so beschlossen worden ist. Schulz füllt sie mit Würde aus.

EU-Ratspäsident Herman Van Rompuy darf nach der Darbietung eines schönen portugiesischen Fado auch als Erster reden: "Hier in Oslo will ich allen Europäern gedenken, die von einem mit sich selbst versöhnten Kontinent träumten, sowie allen Ehre erweisen, die sich täglich darum bemühen, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen." Er blickt nach links, wo die Regierungsvertreter sitzen, deren Interessenvertreter er in Brüssel ist. Er schaut fast während seiner gesamten Rede nach links. Rompuy erinnert daran, wie kühn die Hoffnung auf dauerhafte Aussöhnung nach zwei Kriegen war. "1940 musste mein Vater, damals 17 Jahre alt, sein eigenes Grab schaufeln. Er konnte fliehen. Sonst wäre ich heute nicht hier." Als Konrad Adenauer 1951 in Paris den Vertrag über die Montanunion unterzeichnete, fand er in seinem Hotelzimmer eine französische Kriegsmedaille vor, das Croix de guerre. Der Sohn eines französischen Soldaten hatte sie ihm gesandt, die Tochter eine Notiz dazu geschrieben. Rompuy schaut nach links: Merkel applaudiert, Hollande auch. Rompuy erwähnt Willy Brandts Kniefall in Warschau, die Danziger Werftarbeiter um Lech Walesa oder den Händedruck Kohls und Mitterrands in Verdun. Die wahre Kunst des Kompromisses aber habe Europa in der Wirtschaftspolitik gelernt. "Minister aus Binnenländern diskutieren leidenschaftlich über Fischfangquoten. Europaabgeordnete aus Skandinavien debattieren über den Preis von Olivenöl." Da lacht das Auditorium.

Rompuy fährt mit Blick auf die aktuelle Krise fort, die neue Aufgabe laute: "Frieden halten, wo Frieden ist. Letztendlich ist Geschichte kein Roman, den wir nach einem Happy End weglegen können." Denn einige in Europa zweifelten in der Krise "nicht nur an gemeinsamen Entscheidungen, sondern an der Tatsache, dass gemeinsam entschieden wird". Rompuy beendet seine Rede mit dem Satz: "Ich bin stolz, ein Europäer zu sein" - erst auf Deutsch, dann auf Französisch und Englisch.

Ihm folgt Barroso. Er beginnt mit einem Zitat des Philosophen Spinoza: "Frieden ist eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit." Die EU strebe eben nicht nur Frieden an, sondern verkörpere auch eine "Vision der Freiheit und Gerechtigkeit". Die EU bringe sogar ein "Streben nach einer kosmopolitischen Ordnung" zum Ausdruck, "in der Vorteile für den einen nicht zwangsläufig zulasten eines anderen gehen, in der Normen dem Schutz universeller Werte dienen".

Als persönlichen Jugendeindruck führt der Kommissionspräsident seine Teilnahme an der Revolution gegen die Militärdiktatur 1974 an, der ähnliche Revolutionen in Spanien und Griechenland gefolgt seien. Beim Sturz des Diktators Salazar und der griechischen Junta aber standen die USA keineswegs aufseiten der Demonstranten. 1974 fürchteten sie eine kommunistische Machtübernahme. Es liegt vielleicht an dieser Erfahrung, dass Barroso die USA nur einmal erwähnt - die USA, ohne deren Aufbauhilfe und Bündnispolitik es die EU gar nicht gegeben hätte.

Dann gibt es ein weiteres Gruppenbild. Diesmal darf Herman Van Rompuy die Urkunde halten. Es folgt eine italienische Arie und, als Ausklang der Zeremonie, "Dein ist mein ganzes Herz" von Franz Lehár. Barroso lacht, Rompuy lächelt, Schulz lässt seinen Blick zu Merkel gleiten. Sie kann zufrieden sein.