In Oslo bekommt Europa den Friedensnobelpreis, in Rom gerät der Kontinent in Gefahr.

Europa ist ein zerrissener Kontinent. Nicht einmal an einem der seltenen Feiertage gelingt es, ein Bild der Einheit und Stärke in die Welt zu senden. Da reisen 21 Staats- und Regierungschefs nach Oslo zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union, doch ein ähnlich großes Echo findet ein Ex-Regierungschef. Silvio Berlusconi, der irrlichternde, ja irre Medienzar, will zurück an die Macht in Rom. Der Mann, den Europa aus dem Amt gekippt hat, kippt den Kontinent zurück in die Krise.

Allein die bloße Ankündigung des 76-Jährigen schickte eine Schockwelle durch Europa: Ministerpräsident Mario Monti kündigte seinen Rücktritt an, weil die Partei Berlusconis ihm zuvor die Unterstützung entzogen hatte. Zugleich verschärfte die Personalie Berlusconi die Finanzkrise: Die Risikoaufschläge für italienische Anleihen stiegen gestern kräftig, die Aktienkurse fielen wie ein Stein. Und Spanien gerät in den Strudel Italiens - auch hier kletterten gestern die Risikoaufschläge so stark, dass das Land einen Antrag auf EU-Hilfen prüft.

Für die Finanzmärkte ist Berlusconi ein Albtraum; leider nicht nur für sie. Denn Berlusconi ist der fleischgewordene Reformstillstand - gleich viermal regierte der gebürtige Mailänder zwischen 1994 und 2011 das Land, doch voran brachte er es nicht. Italien verlor dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit. Berlusconi ist ein Populist und geriert sich als Anti-Europäer: Er wird im Wahlkampf massiv auf nationalistische Töne setzen; schon jetzt warnt er polternd vor einem "deutschen Europa".

Die Brisanz der Personalie Berlusconi liegt an der Größe und dem Gewicht Italiens: Das Land ist Gründungsmitglied der EU und des Euro, es ist der drittgrößte Wirtschaftsraum in Europa. Wenn Italien bröckelt, kommt Europa ins Rutschen. Und wenn das Bröckeln in der Figur von Berlusconi vom Volke gewählt werden sollte, wäre das Desaster da. In einem solchen Fall dürfte es den Rettern nicht nur an Geld, sondern auch am Willen zur Rettung fehlen. Holländische, deutsche oder finnische Steuermilliarden für Berlusconi-Land wären politischer Selbstmord - sie würden nicht fließen.

Seit dem Wochenende ist die EU zurück in dem Krisenmodus, den der Kontinent überwunden glaubte. Wie bitter. Der Friedensnobelpreis wäre der ideale Anlass gewesen, über die Tagespolitik einmal hinauszudenken. Es ist menschlich, Erfolge schnell als etwas Alltägliches abzuhaken. Und doch sollte und darf man es nicht vergessen: Die Europäische Union ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte eines geschundenen Kontinents. Zwei Weltkriege begannen im vergangenen Jahrhundert in Europa, die Union hat aus Feinden Partner gebracht. Grenzkontrollen sind längst Geschichte, auch die Mauern in den Köpfen fielen: Zehntausende junge Europäer wagten im Studium den Sprung ins Ausland und erweiterten ihren Horizont, von der Finnland bis Andalusien ist der Euro ein verbindendes Zahlungsmittel. Viele rückständige Regionen haben dank Europa in den vergangenen Jahrzehnten ihr kleines Wirtschaftswunder erlebt, die deutsche Einheit wäre ohne europäische Einigung Utopie geblieben.

Es lohnt, sich diese Erfolge und Leistungen immer wieder bewusst zu machen. Glanz und Elend liegen in Europa dicht beieinander. Die Feierstunde in Oslo mag für die Regierungschefs der EU-Länder eine willkommene wie verdiente Verschnaufpause von der Krise gewesen sein. Retten aber wird der Friedensnobelpreis die europäische Idee nicht. Das müssen die Bürger Europas tun. Nur wem Europa egal ist, kann Berlusconi gleichgültig sein. Die Wahl in Italien wird zur Nagelprobe für die politische Klugheit auf dem Kontinent: Ein Sieg der Reformer wäre ein echter Meilenstein, ein Triumph Berlusconis der Anfang vom Ende Europas.