Der Zorn richtet sich gegen ihre Regierung, denn Korruption und Wirtschaftskrise würgen den Aufschwung im Autonomiegebiet ab.

Hamburg. Es ist ein Déjà-vu-Erlebnis der politischen Art: 2011 hatte sich der palästinensische Präsident Mahmud Abbas vor die Uno gestellt und für Palästina den Status eines Vollmitglieds verlangt. Nach ihm sprach Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, der diesem Ansinnen bekanntlich wenig abgewinnen kann.

Gestern Abend traten wieder beide nacheinander vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Abbas, dessen Antrag vom vergangenen Jahr in irgendwelchen Schubladen verbleicht, hatte es diesmal eine Nummer kleiner.

Er will aber sein Autonomiegebiet völkerrechtlich aufwerten, ohne mit Israel reden zu müssen. Für Netanjahu wie auch für die US-Regierung ist die Palästinafrage derzeit nicht so brennend. Der eskalierende Konflikt mit dem Iran überschattet alles in Nahost.

Doch für die palästinensische Führung drängt die Zeit, einen Erfolg vorlegen zu können - ihr Volk steckt politisch und wirtschaftlich in der Krise; der Lebensstandard sinkt, der Zorn wächst. Rund vier Millionen Palästinenser leben im Autonomiegebiet, zweieinhalb Millionen im Westjordanland, eineinhalb Millionen im Gazastreifen. Seit 2007 sind die Gebiete zweigeteilt - im Gazastreifen herrscht ein Hamas-Regime, im Westjordanland die Fatah. Während die Fatah einen säkularen Staat schaffen will, beabsichtigt die Hamas, einen islamistischen Gottesstaat zu errichten. Und während die Fatah sich auf das gesamte Westjordanland sowie Gaza mit Jerusalem als Hauptstadt beschränken will, beansprucht die Hamas das gesamte Gebiet West-Palästinas - einschließlich des heutigen Staatsgebiets Israels. Auch deshalb lässt die Hamas nicht von ihrem erklärten Ziel ab, den Staat Israel zu vernichten. Einer der Hauptgründe dafür, dass die Hamas im Januar 2006 die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen erzielen konnte, war, dass die Palästinenser die wuchernde Korruption satthatten, die sich unter dem 2004 verstorbenen Fatah-Gründer und Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat herausgebildet hatte. Zwar unternimmt Ministerpräsident Salam Fajad, der früher für die Weltbank arbeitete, nun ernsthafte Anstrengungen, diesen Sumpf trockenzulegen, doch die alten Eliten wehren sich verbissen.

Der Fatah-Politiker Mohammed Dahlan, einst mächtiger Sicherheitschef im Gazastreifen, bezichtigte Abbas, er habe 1,3 Milliarden Dollar aus dem "Palästinensischen Investmentfonds" unterschlagen. Abbas konterte diese unhaltbare Anschuldigung mit dem Hinweis darauf, dass er über die trüben Quellen von Dahlans Reichtum so einiges wisse. Dahlan, der aus dem Zentralkomitee der Fatah gefeuert wurde, soll sein Vermögen durch Erpressung von Geschäftsleuten, mit dubiosen Importmonopolen, der Abschöpfung des Grenzverkehrs im Gazastreifen und sogar Mord erworben haben. Ein weiterer in Ungnade gefallener Fatah-Politiker, Mohammed Rachid, einst Arafats Wirtschaftsberater, beschuldigte Abbas im Juni, er unterhalte ein geheimes Bankkonto mit fast 40 Millionen Dollar, darunter US-Hilfsgelder. Der amerikanische Nahost-Experte Jonathan Schanzer legte dem US-Repräsentantenhaus im Juli einen Bericht zur Korruption im politischen Establishment der Palästinenser vor, der den Titel trug: "Die chronische Kleptokratie". Nach einer unabhängigen Umfrage vom Juni glauben knapp 73 Prozent der Palästinenser, dass die Abbas-Regierung korrupt sei - und immerhin noch 61 Prozent, dass dies auch für die Hamas im Gazastreifen gilt.

Mahmud Abbas hat sogar das Kabinett seines Ministerpräsidenten Fajad beschuldigt, korrupt zu sein. Fajads Wirtschaftspolitik war zunächst erfolgreich: Das Wachstum im Westjordanland betrug 2010 und 2011 sieben bis acht Prozent - was vor allem an einer guten Kooperation zwischen israelischen und palästinensischen Firmen lag. Gestern bewilligte die israelische Regierung weitere 5000 Arbeitserlaubnisse für Palästinenser in Israel - womit deren Zahl nun mehr als 46 000 erreicht. Denn die palästinensische Wirtschaft ist in die Krise geraten. Israel will mit der Aufstockung der Arbeitserlaubnisse verhindern, dass sie weiter abstürzt und die Unruhen eskalieren.

Vor zwei Wochen hatte es gewaltsame Proteste gegen Abbas und Fajad im Westjordanland gegeben, die schwersten seit 1994. Auslöser waren massive Erhöhungen der Preise für Nahrungsmittel und Treibstoff. Die Kosten im Westjordanland sind inzwischen ähnlich hoch wie in Israel, doch die Löhne erheblich niedriger.

Abbas, dessen offizielle Amtszeit bereits 2009 abgelaufen ist, hat zwar eine Anti-Korruptions-Kommission gegründet, aber er reagiert massiv auf Kritik an seiner Person. Nach Berichten der Nachrichtenagentur Maan soll seine Regierung Internetprovider angewiesen haben, Websites mit Abbas-kritischen Inhalten zu sperren.