Mit dem Tod von Muammar al-Gaddafi hat die Welt einen menschenverachtenden Gewaltherrscher und paranoiden Gecken weniger.

Tripolis/Berlin. Die Flucht hat ein Ende. Der Fluch auch: Muammar al-Gaddafi ist tot. Er starb in seiner libyschen Heimatstadt Sirte, in völliger Verkennung der neuen libyschen Verhältnisse. Der 69-Jährige war offenbar tatsächlich dem Irrglauben verfallen, er könne das Ruder noch einmal herumreißen - wie schon so oft in seiner wechselvollen Karriere, seit er sich 1969 an der Spitze des "Bundes der freien Offiziere" an die Macht geputscht hatte.

Dabei sah es noch vor acht Monaten so gut aus für Gaddafi. La Belle und Lockerbie - Stichworte für Mord und Terror unter der Regie libyscher Geheimdienste - nicht vergeben, aber fast vergessen. Der Terrorpate und Außenseiter der internationalen Politik hatte nach mehreren huldvollen Gesten, erfolgreichen Moderationen bei Geiselnahmen und großzügigen Ablasszahlungen in Milliardenhöhe seinen Frieden mit der Welt gemacht - und die Welt mit ihm. Er war zwar nach wie vor ein Schurke, aber er war "unser" Schurke, domestiziert, so schien es.

Der als Drahtzieher verheerender Anschläge verdächtige Beduinensohn avancierte zum etwas skurrilen, aber im Grunde gern gesehenen - weil zahlungskräftigen - Gast, der mit großer Entourage und Luxuszelt in den Gärten westlicher Hauptstädte residierte. Sein Land erwies sich als zuverlässiger Öl-Lieferant, Garant für milliardenschwere Großaufträge an Rüstungsbetriebe und Schwerindustrie sowie als Abwehrblock gegen afrikanische Flüchtlinge. Gaddafi sei verrückt, hieß es - auch und vor allem unter seinen arabischen Brüdern, die ihm nie vertrauten. "Bizarr" ist wohl die treffendere Bezeichnung für den Mann, der sich stets mit einer Leibgarde schöner Soldatinnen umgab und sich selbst mit den schillerndsten Orden auszeichnete.

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Man sah ihm all das nach in Rom, Paris, zuletzt sogar in Washington. Es hätte also ein ruhiger und komfortabler Lebensabend für Gaddafi werden können. Doch dann erhob sich sein eigenes Volk. Am 15. Februar demonstrierten Tausende gegen ihn, und er antwortete, wie er es immer getan hatte: mit Gewalt.

Doch diesmal wich das libysche Volk nicht zurück, sondern begehrte auf. Tausende starben im folgenden Bürgerkrieg, an dessen Ende nun der vollständige Zusammenbruch eines auf Vetternwirtschaft und Petrodollar aufgebauten Terrorregimes steht. Aber erst mit Gaddafis Tod ist es wirklich vorbei. Die Welt ist nun nicht nur um einen Massenmörder und Gewaltherrscher, sondern auch um einen paranoiden Paradiesvogel ärmer.

Wer war Muammar al-Gaddafi? Bis zum 1. September 1969 war er ein unbekannter 27 Jahre junger Hauptmann. Doch dann lernte ihn die Welt kennen. Er hatte König Idriss al-Sanussi entmachtet, der ins türkische Exil ging. Der kraftvoll auftretende, gut aussehende Soldat und studierte Historiker war Spross einer Berberfamilie in der Nähe der libyschen Küstenstadt Sirte. Schnell sicherte der glühende Nationalist seine Macht ab, indem er seine Familien- und Stammesgenossen eines bis dahin unbedeutenden Clans in Schlüsselpositionen installierte. Seine vom ägyptischen Präsidenten Gamal Abd al-Nasser inspirierte Vision eines panarabischen Weltreichs fand Gehör auf den politischen Seiten der Zeitungen, seine fantasievollen Uniformen aus der Werkstatt von Pierre Cardin schmückten die Titelseiten der Gazetten.

Doch der operettenhafte Geck wechselte sehr bald ins ernste Fach. Er hatte das "Rote Buch" von Mao gelesen und fühlte sich inspiriert, seine eigene Programmatik niederzulegen - 1975 in einem "Grünen Buch". Das Werk wurde im wahrsten Wortsinn zur Pflichtlektüre in dem 6,5 Millionen Einwohner zählenden Wüstenstaat. Das Grüne Buch enthält eine krude Volksbefreiungsideologie und ebensolche Lebensweisheiten. Im Vorwort seiner "dritten Universaltheorie" schrieb er: "Die bloße Existenz eines Parlaments bedeutet die Abwesenheit des Volkes."

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Sein Ansatz - zumindest theoretisch - war deshalb ein "basisdemokratischer". Die ganze Macht müsse dem Volke gehören, weshalb es keine Parteien geben dürfe. 1977 rief er die sozialistische Volks-Dschamahirija aus, was abgeleitet von dem arabischen Wort "Dschumhurija" (Republik) so viel wie "Volksmassenstaat" bedeutet. Er hatte zwar die Macht, aber letztlich nicht die menschliche Größe, auch nur Bruchstücke seiner Theorie umzusetzen. Stattdessen zerschlug er Strukturen, Beziehungsgeflechte und entmündigte die Intelligenzija.

Aber er wollte noch mehr: die arabisch-islamische Glaubensgemeinschaft (Umma) einen und sich selbst zum Führer küren lassen, gewissermaßen zu einem modernen Kalifen. Doch die umworbenen Bruderländer waren weniger an seinen Visionen als an seinen Petrodollar interessiert. Enttäuscht machte er Afrika zu seinem neuen Projekt, das er mit ebenso viel Eifer wie Öl-Milliarden vorantrieb, jedoch ebenfalls ohne nennenswerten Erfolg. Nebenbei arbeitete sich der "Bruder Oberst", den der frühere US-Präsident Ronald Reagan einst den "tollwütigen Hund des Nahen Ostens" genannt hatte, nach und nach wieder an den verhassten Westen heran: Er lieferte die beiden Verdächtigen des Lockerbie-Attentats aus. Er zahlte hohe Entschädigungssummen an die Hinterbliebenen der beiden Flugzeugabstürze von Lockerbie und Niger. Er vermittelte in Geiseldramen, etwa im Jahr 2000, als die deutsche Familie Wallert durch libysches Krisenmanagement freikam. Der Internet-Enthüllungsplattform WikiLeaks verdankt die Welt wohl eine der präzisesten Charakterisierungen des egozentrischen Libyers. Der ehemalige US-Botschafter in Tripolis, Gene A. Cretz, kabelte in seine Heimat Depeschen folgenden Inhalts: Gaddafi sei ein "Hypochonder", "launisch" und "extrem eitel". Seine schlaffe Gesichtsmuskulatur sei Ergebnis der vielen Versuche, der faltigen Haut durch Botox-Spritzen mehr Frische zu verleihen. Sein seltsamer Haarschopf verrate missglückte Haartransplantationen. Man dürfe, so resümiert Cretz, Gaddafi allerdings nicht unterschätzen. Er sei ein "Meister-Intrigant".

Was nicht so bekannt ist: Gaddafi hat auch gedichtet. Der selbst ernannte Romantiker sinniert in verschiedenen Machwerken über das mühsame Diesseits und den Tod. Darin stellt er auch die Frage, worauf er als armer kleiner Beduine, verlassen in einer verrückten modernen Stadt, denn überhaupt noch hoffen könne? Die Antwort liegt wohl in dem Titel, mit dem das Kapitel überschrieben ist. Er lautet: "Flucht in die Hölle".

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