Viel Lob für die Verfassungsreform. Die Türken erhalten mehr Rechte. Doch es gibt auch Vorwürfe gegen Premier Erdogan.

Ankara. Die türkische Demokratie lebt. Das ist das Fazit der Reaktionen auf den Volksentscheid. US-Präsident Barack Obama sagte dem türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Telefongespräch, die Beteiligung an der Abstimmung sei ein Zeichen für die Lebendigkeit der türkischen Demokratie. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) äußerte sich erfreut über den Erfolg des Referendums. „Die Verfassungsreform ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der Türkei nach Europa.“ Die Debatte sei aber „sicher noch nicht beendet. Ich bin zuversichtlich, dass der Reformprozess in der Türkei im Sinne einer weiteren Öffnung der Gesellschaft fortgeführt wird.“

Auch die Europäische Union (EU) begrüßte die Annahme von Verfassungsänderungen , forderte zugleich jedoch weiter reichende Reformen. Die geplanten Neuerungen seien „ein Schritt in die richtige Richtung“, hieß es in einer Erklärung von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Die tatsächliche Bedeutung für die Lebenswirklichkeit in der Türkei werde von der Umsetzung der Verfassungsänderungen abhängen.

Etwa 58 Prozent der Wähler hätten für das Paket aus 26 Änderungen gestimmt, sagte Ministerpräsident Erdogan vor jubelnden Anhängern. Verlierer seien diejenigen, die Eingriffe des Militärs in die Demokratie unterstützten. Mit den insgesamt 26 Änderungen erhalten die türkischen Bürger mehr Rechte, zum Beispiel erstmals die Möglichkeit von Individualklagen vor dem Verfassungsgericht. Zugleich wird die zivile Kontrolle über die Armee gestärkt, Putsch-Generäle können erstmals vor Gericht gestellt werden. Umstritten ist eine in dem Paket enthaltene Justizreform, die Präsident und Parlament mehr Einfluss auf die Auswahl hoher Richter einräumt.

Erdogan sagte, sein Land habe einen historischen Schritt gemacht, dem weitere Reformen folgen würden. „Unsere Demokratie ist nun stärker geworden. Die Demokratie ist der Gewinner.“

Die Wahlbeteiligung betrug mehr als 77 Prozent. Devlet Bahceli, der Vorsitzende der rechtsextremen Oppositionspartei MHP, forderte Erdogan zu Neuwahlen auf. Er warf der Regierung vor, das Referendum mit Drohungen und Bestechung manipuliert zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz wurde ergänzt, sodass staatliche Vorteile für benachteiligte Bevölkerungsgruppen ausdrücklich möglich werden.

Kritiker aus der Opposition werfen Erdogan und seiner AKP vor, sie wollten so die türkische Justiz unter Kontrolle bringen. Erdogans AKP und die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP, die sich als Hüterin des Erbes von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk versteht, hatten sich in den vergangenen Wochen einen heftigen politischen Schlagabtausch geliefert.

In den von Kurden bewohnten Provinzen im Osten der Türkei war der Anteil abgegebener Ja-Stimmen besonders groß. Allerdings war die Wahlbeteiligung dort nach Boykottaufrufen kurdischer Parteien teilweise auch besonders gering, was das Meinungsbild verzerrte. In den Kurdengebieten gab es am Sonntag vereinzelt Zusammenstöße. So attackierten Demonstranten, die Slogans der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK riefen, ein Wahllokal in der Provinz Mersin und warfen zwei Brandsätze.