Die Regierungspartei von Premier Erdogan hat das Referendum über die Verfassungsreform gewonnen. Einige Pläne sind aber umstritten.

Istanbul. Das türkische Volk hat mit deutlicher Mehrheit für eine modernere Republik gestimmt. Die Wähler votierten am 30. Jahrestag des Militärputsches vom 12. September 1980 für ein Paket aus 26 Änderungen der Verfassung. Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP bietet sich nun eine zweite Chance für tiefgreifende Reformen. Die erste Möglichkeit dazu – nach dem triumphalen AKP-Sieg bei der Parlamentswahl 2007 – war vertan worden , weil Erdogan und die AKP bei Freiheit zuerst an das Recht muslimischer Studentinnen auf ein Kopftuch dachten.

Nach dem Kopftuchstreit schien der Reformschwung verloren. Das türkische Verfassungsgericht verpasste Erdogan im Sommer 2008 in einem Verbotsverfahren gegen seine AKP einen schweren Dämpfer. Die Richter lehnten zwar ein Parteiverbot wegen angeblich islamistischer Umtriebe ab. Das Gericht verpasste der Regierungspartei aber einen Warnschuss und kürzte staatliche Finanzhilfen. Seitdem liefert sich die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP, die sich als Hüterin des säkularen Erbes von Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk versteht, mit Erdogan einen Dauermachtkampf.

Die säkularen Kräfte in Justiz und Militär agieren dabei so, als gelte es in der Türkei noch immer, den Staat vor seinen Bürgern zu schützen. Sie bewahren dabei Züge der „Erziehungsdiktatur“ Atatürks, der Modernisierung mit einem autoritären System betreiben ließ.

In dem Referendum vom Sonntag hat nun das Volk den Kurs vorgegeben. Die türkischen Wähler stimmten mehrheitlich dafür, die Privatsphäre besser zu schützen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit weniger leicht zu ermöglichen oder auch eine „positive Diskriminierung“ – staatliche Vorteile für Kinder, Behinderte oder Witwen – zu erlauben.

Kritik gibt es nicht nur in der Türkei, weil die Regierung über ihre Mehrheit im Parlament einen deutlich größeren Einfluss auf höchste Gerichte bekommen wird. So kann sie über die Ernennung höchster Richter mitentscheiden. Die Justiz aber ist bisher in der Türkei eine Trutzburg säkularer Kräfte.

„Die Regierung war sich nicht sicher, ob die Änderungen im Justizwesen durchkommen, wenn sie nicht in einem Gesamtpaket abgestimmt werden“, sagte der Istanbuler Politikprofessor Ilter Turan vor der Volksabstimmung. „Da die AKP dem Volk nun sehr verschiedene Änderungen nur in einem Gesamtpaket zur Abstimmung mit Ja oder Nein vorlegt, hat sie das Referendum zur Vertrauensabstimmung über die Regierung gemacht.“

Erdogan ist es dabei gelungen, ein knappes Jahr vor der für den Sommer 2011 geplanten Parlamentswahl auch die politischen Kräfte für sich zu mobilisieren, die sonst wohl nicht für seine AKP stimmen würden. Das Volk habe die Möglichkeit, den Militärherrschern von damals eine Quittung zu verpassen, sagt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der sich für ein „Ja“ aussprach.

Die türkische Regierung verspricht, die Verfassungsänderungen seien nur ein erster Schritt hin zu einer gänzlich neuen Verfassung. Aus der EU kam allerdings die Mahnung, demokratische Verbesserungen nicht nur auf dem Papier zu vollziehen. Eine Sprecherin sagte, hinsichtlich der Reformen des Justizsektors sei die Kommission der Auffassung, dass nicht der Beschluss, sondern die tatsächliche Anwendung der Reformen entscheidend sei.