"Tötet die Kikuyu! Tötet die Massai!" schreit es aus dem mordgierigen Mob. Explosionen erschüttern die Luft, dann fallen fanatisierte Menschen übereinander her: "Eine Frau zog eine Runga (Knüppel) aus ihrer Shuka (Lendentuch) und schlug damit einer anderen über den Kopf", schreibt Robert Ruark in seinem Afrika-Klassiker "Uhuru" (Freiheit, 1962) über das Massaker aus der Zeit der Freiheitskämpfe. "Ein Kind purzelte aus seinem Nest im Umhang der Mutter, fiel zu Boden und wurde zertrampelt."

Ein halbes Jahrhundert später scheinen in Kenia politisch motivierter Hass und blutige Barbarei wiederzukehren: Sind die mindestens 30 Männer, Frauen und Kinder, die am Neujahrstag in der Kirche der 230 000-Einwohner-Stadt Eldoret bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, erste Opfer einer neuen Welle grausamer Gewalt wie in den Tagen der berüchtigten Mau-Mau?

Das einst blühende ostafrikanische Land bietet das wohl traurigste Beispiel des auch anderswo grassierenden Niedergangs durch Despotismus, Korruption und Misswirtschaft. Mit vielen natürlichen Reichtümern gesegnet und von fleißigen, vielfach gut ausgebildeten Menschen bewohnt, droht Kenia nach einer langen Phase nachkolonialen Wohlstands im Chaos alter ethnischer Gegensätze zu versinken.

Die Gründe für die vermutliche Fälschung des knappen Wahlergebnisses, die überstützte Vereidigung des Machthabers, den erbitterten Widerstand der möglicherweise um den Sieg gebrachten Opposition und die bürgerkriegsähnlichen Unruhen wurzeln in einer Vergangenheit, deren Gespenster offenbar weder das moderne Bildungssystem noch die Verfassung mit ihren Gleichheitsgrundsätzen zu bannen vermögen.

Der US-Journalist Ruark (1915-1965) ist der wohl zuverlässigste Chronist der Mau-Mau-Aufstände, mit denen vor allem Angehörige des mächtigsten Stammes, der Kikuyu, seit 1952 die britischen Kolonialherren und deren einheimische Verbündeten terrorisierten. In Kämpfen und bei Anschlägen kamen damals bis zu 50 000 Menschen um. 1957 stellte die von den Kikuyu dominierte "Kenya African National Union" (KANU) die erste schwarze Regierung der Kolonie.

1963 wird Kenia unabhängig. Als starker Mann kommt der Kikuyu und Mau-Mau-Führer Jomo Kenyatta (1893-1978) an die Macht. Eine Demokratie nach westlichem Vorbild hat er nicht im Sinn, doch übernimmt er, auf weiße Farmer und Fachleute gestützt, das westliche Wirtschaftssystem. Die weise Entscheidung schafft Wohlstand. Bald gilt der Einparteienstaat als Musterbeispiel unter Afrikas Ex-Kolonien, die Anfang der 60er-Jahre in die Freiheit entlassen worden sind. Während das benachbarte Tansania unter dem Staatssozialismus des Ex-Lehrers Julius Nyerere verkommt und Uganda auf das Schreckensregime des Ex-Feldwebels Idi Amin zutreibt, beginnen in und um Nairobi goldene Jahre. Eine maßvolle Landreform versöhnt die Herren und Knechte der Kolonialzeit, die über den Umbruch gerettete Ordnung lockt Kapital und Touristen ins Land.

Doch noch zu Lebzeiten des "Mzee" Kenyatta, wie Kenianer einen "würdigen alten Mann" nennen, keimen die Kräfte der Zerstörung, vor allem die Korruption. Die nach ihrem bevorzugten Stuttgarter Automodell "Wabenzi" genannten Mitglieder der Führungsclique bereichern sich so scham- wie hemmungslos an Steuer- und Entwicklungshilfegeldern, Boden- und Naturschätzen wie Elfenbein. Viele Kikuyu betrachten den Staat als Stammesangelegenheit, andere Ethnien finden sich bald benachteiligt oder ganz aus der Politik gedrängt.

Noch unter Kenyatta verlässt Vizepräsident Oginga Odinga (1911-1994) vom Stamm der Luo mit 29 Abgeordneten die KANU und gründet 1966 die konkurrierende "Kenia's People Union" (KPU). Kenyatta hetzt den Abweichlern den Sicherheitsdienst auf den Hals. Immer deutlicher tritt zutage, dass es nicht nur um politische Meinung, sondern um Stammeszugehörigkeit geht: Die Kikuyu zählen zu den Bantu, stellen mit acht Millionen Menschen etwa ein Viertel der Bevölkerung Kenias und siedeln als Bauern und Handwerker vor allem im Hochland. Die etwa 3,5 Millionen Luo dagegen leben vor allem im Westen am Viktoriasee und sprechen eine nilotische Sprache. Der Gegensatz scheint inzwischen fast so explosiv wie der mörderische Hass zwischen dem Bantu-Volk der Hutu und dem Niloten-Volk der Tutsi in Zentralafrika.

Der anhaltende Niedergang Kenias verschärft nun die Spannungen. Eine Bevölkerungsexplosion zehrt Räume und Ressourcen auf, klimatische Veränderungen reduzieren die Anbauflächen. In manchen Städten ist jeder zweite Einwohner HIV-positiv. Die Kriminalität, auch außerhalb der Dreimillionenstadt Nairobi, schreckt immer mehr Touristen ab. Zugleich greift die korrupte Herrscherkaste immer ungenierter in die öffentlichen Kassen. Auch deshalb wählt jeder zweite Stimmberechtigte ausschließlich Stammesgenossen. Als Lohn erwartet er Vergünstigungen bei öffentlichen Geldern und Arbeitsplätzen, zusammengefasst in dem Satz "Jetzt sind wir dran mit Essen".

Zuletzt liegen Kikuyu und Luo mit ihren Verbündeten aus Kenias 42 Stämmen gleichauf. Die einen führt Staatspräsident Mwai Kibaki (76), einst Kenyattas Finanzminister, die anderen Oginga Odingas Sohn Raila Odinga (62). Kurz vor Schließung der Wahllokale liegt der Luo vorn, ein paar Stunden später aber rufen die Behörden den Kikuyu zum Sieger aus - nach "schweren Anomalien" bei der Auszählung.

Die Luo in den Slums greifen wütend zu den Waffen, die Staatsgewalt schlägt zurück. Mit den verbrannten Kikuyu in der Kirche von Eldoret sterben auch Hunderte anderer Kenianer. Ein friedliches Miteinander der Stämme - die untereinander ja auch heiraten und Familien gebildet haben - scheint in weite Ferne gerückt. Jetzt fürchten viele, dass der umstrittene Wahlsieger das Rezept des Staatschefs Robert Mugabe in Simbabwe übernimmt und die Stämme hinter sich eint, indem er erklärt, die wahren Feinde Kenias seien die Weißen.