Netanjahu nur Zweiter bei der Wahl, erhebt aber Anspruch auf Amt des Ministerpräsidenten. Rechtes Lager wurde gestärkt. Livni bietet Netanjahu Koalition an. Zünglein an der Waage könnte der ultra-nationale Avigdor Lieberman werden.

Tel Aviv. Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Regierungspartei Kadima und dem rechtsorientierten Likud bei den Parlamentswahlen in Israel haben die Vorsitzenden beider Parteien Anspruch auf die Regierungsbildung erhoben. Die der Kadima von Außenministerin Zipi Livni wird nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen mit nur einem Sitz Vorsprung stärkste Kraft in der Knesset. Die Siegerin ist sie jedoch nicht. Likud-Chef Benjamin Netanjahu könnte mit fünf weiteren Parteien des nach dem Krieg im Gaza-Streifen erstarkten rechten Lagers eine Koalition bilden, die über 65 der 120 Abgeordnetenmandate verfügen würde.

Präsident Schimon Peres wird nach Vorlage des amtlichen Endergebnisses in acht Tagen entweder Livni oder Netanjahu mit der Regierungsbildung beauftragen. Beide Parteivorsitzenden reklamierten noch in der Wahlnacht den Regierungsauftrag für sich.

Mitentscheidend, ob Livni oder Netanjahu eine Regierungskoalition bilden können, ist jetzt vor allem das Verhalten des Vorsitzenden der ultra-nationalen Einwandererpartei Israel Beitenu (Israel Unser Haus), Avigdor Lieberman. Seine Partei hat nach einem anti-arabischen Wahlkampf 15 Sitze gewonnen.

"Wir haben den Schlüssel zur nächsten Regierung in der Hand", sagte Lieberman. Den Beitritt seiner Partei zu einer Regierungskoalition machte er vom Sturz der radikal-islamischen Hamas-Organisation im Gazastreifen abhängig. Es werde mit seiner Partei weder eine Waffenruhe noch direkte oder indirekte Gespräche mit der Hamas geben, sagte er.

"Es ist wahr, dass Zipi Livni überraschend gewonnen hat, aber wichtiger ist, dass das rechte Lager eine klare Mehrheit gewonnen hat", sagte Lieberman. Er bevorzuge eine Koalition aus den rechten Parteien.

Oppositionsführer Netanjahu begründete seinen Machtanspruch mit den starken Zugewinnen seines Likud und des rechten Lagers. "Das sendet die klare Botschaft, dass das Land einen Wandel will", sagte der 59-Jährige auf der Wahlparty in Tel Aviv. "Mit Gottes Hilfe werde ich die nächste Regierung führen. . . Das Land will einen Wechsel und einen anderen Weg unter Führung des Likud einschlagen. Unser Weg hat gewonnen und wir werden das Land führen", sagte Netanjahu in einer Art Siegesrede.

Dagegen sagte Livni vor jubelnden Anhängern in Tel Aviv, die Menschen hätten sich für die Kadima entschieden. Sie forderte Netanjahu auf, einer Regierung der nationalen Einheit unter ihrer Führung beizutreten. "Alles, was wir jetzt tun müssen, ist die richtige Sache; die Entscheidung der israelischen Bürger zu respektieren und einer Regierung der nationalen Einheit unter unserer Führung beizutreten", sagte Livni an die Adresse Netanjahus.

Auch Innenminister Meir Schitrit von der Kadima sagte im israelischen Rundfunk, eine Koalition seiner Partei mit dem Likud müsse von Livni angeführt werden. Ein Rotationsverfahren wie nach einem ähnlichen Wahlergebnis 1984 sei nicht praktikabel.

Der Likud legte im Vergleich zur zurückliegenden Wahl im März 2006 nach den vorliegenden Ergebnissen um 15 Mandate auf 27 Sitze zu. Dagegen büßte die Kadima ein Mandat ein und ist nun noch mit 28 Abgeordneten als größte Fraktion im Parlament vertreten.

Größter Verlierer der Wahl ist die Arbeitspartei von Verteidigungsminister Ehud Barak, die bislang der Regierungskoalition angehörte. Sie verliert 6 ihrer bislang 19 Mandate und wird nur noch die viertstärkste Kraft in der Knesset. Die ultra-religiöse Schas-Partei liegt mit 11 Mandaten knapp dahinter.

Der palästinensische Chefunterhändler Sajeb Erekat sagte, Israel habe "für einen Zustand der Lähmung gestimmt". Er äußerte sich besorgt, dass die neue israelische Regierung "ungeachtet ihrer Zusammensetzung nicht in der Lage sein wird, den Friedensprozess mit den Palästinensern oder Syrien voranzutreiben".

Ungeachtet des schlechten Wetters mit Regen und Orkanböen lag die Wahlbeteiligung nach Angaben des Wahlkomitees bei 65,2 Prozent der rund fünf Millionen Wahlberechtigten. Dies war etwas mehr als bei der Wahl vor drei Jahren, als 63,5 Prozent an die Urnen gingen.