Es begann mit Bauchkrämpfen. Sieben Tage später liegen die Brüder Johannes und Maximilian im UKE, tragen den EHEC-Erreger in sich.

Hamburg. Sie sagt, dass sie keine Angst hat. Sie sagt das laut und deutlich, sodass die Jungs es hören können. Sie lächelt tapfer. Dann holt sie tief Luft. Die Stimme soll nicht zittern. Nicht vor den Kindern. Johannes und Maximilian sollen nicht merken, was ihre Mutter fühlt. "Manchmal", sagt Stephanie Lucka, "habe ich das Gefühl, neben mir zu stehen. Nur Zuschauer und nicht Betroffene zu sein." Das mache die Sache leichter.

Sie ist betroffen, doppelt sogar.

Universitätsklinik Eppendorf, Haus N22, Kinderstation. Die Wände sind bunt bemalt. An den Türen zu den Patientenzimmern kleben Bilder von Giraffen und Koalabären. Sie sollen die Atmosphäre auflockern. Es ist still. Die Türen sind geschlossen. Stephanie Lucka sitzt in Zimmer Nummer 10, das mit dem roten Rennauto an der Tür. Sie lächelt, obwohl sie heulen könnte.

"So etwas", sagt sie, "passiert doch nur den anderen." Jetzt sind sie die anderen. Johannes, 12, und sein zwei Jahre älterer Bruder Maximilian haben sich an EHEC-Keimen infiziert. Wo sie sich angesteckt haben, kann die Mutter nicht sagen. Nur dass sie zu Hause viel Gemüse essen. Seit zehn Tagen kämpfen sie nun gegen die Krankheit. Sie versuchen, stark zu sein. Sie lächeln, wenn sie sagen, dass es ihnen nicht gut geht. Johannes ist an die Dialyse-Maschine angeschlossen, sein Blut muss gereinigt werden. Die Nieren arbeiten nicht richtig. Maximilian hat eine Schale auf dem Bett stehen. Immer wieder muss er sich übergeben. Sein Gesicht ist gelb. Sein Körper ist vergiftet. Aber noch arbeiten die Nieren. "So krank", sagt die Mutter, "waren die Jungs noch nie."

Es ist Sonntag, der 15. Mai. Johannes und Maximilian verbringen den Nachmittag im "Indoo", einer Kinderspielhalle in Ahrensburg. Sie toben und klettern, sie hüpfen auf dem Trampolin. "Und zwischendurch mussten wir uns auf den Boden legen, weil wir solche Bauchschmerzen hatten", sagen sie.

Schleichend ist der Prozess. Nach den anfänglichen Bauchkrämpfen kommt einen Tag später der erste Durchfall. Die Eltern denken sich nichts dabei. Sie geben die üblichen Hausmittel, Kamillentee, Zwieback, Banane. Der Zustand verschlechtert sich. "Aber wegen Durchfall rennt man doch nicht gleich zum Arzt", sagt die Mutter. Nach vier Tagen, am Donnerstagnachmittag, beginnt Johannes sich zu erbrechen, im Stundentakt. Die ganze Nacht durch. "Freitagmorgen sind wir dann zum Arzt gegangen", sagt Stephanie Lucka, die selbst Krankenschwester ist. Der Junge bekommt eine Infusion. Die Ärztin schickt das Kind wieder nach Hause. Die EHEC-Bakterien haben noch nicht die Schlagzeilen erreicht. Von einer Infektionswelle erfährt die Öffentlichkeit erst einen Tag später.

Am Sonnabendmorgen klingelt bei Familie Lucka das Telefon. Es ist Oma Brigitte. Sie hat im Radio von den Bakterien gehört. "In diesem Moment wusste ich, die Kinder haben den Keim." Die Eltern fahren mit den Jungs ins Wilhelmstift in Rahlstedt. Johannes wirkt apathisch. Er ist dehydriert. Mit dem Notarztwagen wird er umgehend ins UKE gebracht. Die Nieren des Zwölfjährigen haben aufgehört zu arbeiten. Der Junge schwebt in Lebensgefahr. Wenige Stunden später wird auch Maximilian ins UKE eingeliefert.

Die Ärzte nehmen eine Stuhlprobe. Noch bevor die Ergebnisse im Labor vorliegen, beginnen sie mit der Behandlung. Sie wissen, dass die Jungen am Hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) leiden. Sie wissen auch, dass Johannes und Maximilian nicht ihre einzigen Patienten mit dieser Krankheit sein werden. Im Labor in Haus O26, zweiter Stock, sind inzwischen Dutzende Stuhlproben eingegangen. Das Team wird von einem auf drei Mitarbeiter aufgestockt. Hinzu kommt ein Arzt, der rund um die Uhr vor Ort ist.

Die Testergebnisse aus dem Labor landen einen Flurtrakt weiter bei Martin Aepfelbacher. "Wir haben in den vergangenen drei Tagen so viele Proben untersucht wie sonst im ganzen Jahr", sagt der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene. Er sitzt im Konferenzraum 231 und erklärt, wie sein Team dem Bakterium auf die Spur kommt. "Im Stuhlgang der Infizierten mit blutigem Durchfall lässt sich ein Gift namens Shiga-Like-Toxin mithilfe eines Antikörpertests nachweisen." Die Exkremente werden im Reagenzglas mit Teststoffen vermischt. Färbt sich der Glasinhalt gelblich, hört der Patient bald die bedrohliche Diagnose "Enterohämorrhagische Escherichia coli", das Bakterium EHEC ist im Darm.

Professor Aepfelbacher lehnt sich in seinem Stuhl zurück. "Es handelt sich um eine ganz normale Epidemie, wie wir sie in den vergangenen Jahren häufiger hatten", sagt er nüchtern. Panik sei nicht angebracht, aber die große Zahl der Infizierten und die starken Symptome seien schon ungewöhnlich. Der Erreger habe auch nicht die typische Oberflächenstruktur und sei gegen Antibiotika resistent. "Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Bakterium sehr spannend", sagt Aepfelbacher. "Es zeigt wieder einmal, dass wir trotz allem Wissen und aller Hygiene nicht davor gefeit sind. Die Erreger werden immer eine Möglichkeit finden."

Nicht jeder Infizierte werde auch krank, sagt Aepfelbacher. Bei manchen verschwinde das Bakterium nach leichtem Durchfall wieder - nur bei fünf bis zehn Prozent der Infizierten gebe es die schweren Komplikationen des HU- Syndroms. In diesen Fällen gerate das Gift aus dem Darm in die Blutbahn.

Nachgewiesen wird der Erreger durch Bakterienkulturen. Dutzende rote Agarplatten stapeln sich auf den Teewagen im Labor. Auf ihnen züchten die wissenschaftlichen Mitarbeiter die Erreger an. Rund 100 Analysen wurden am Wochenende im UKE-Labor durchgeführt. Und stündlich kommen neue Proben hinzu. Das Ergebnis ist fast immer positiv.

An der Sicherheitswerkbank sitzt Brigitte Weiss. Sie trägt einen Mundschutz, dunkelblaue Handschuhe und eine Brille. Der flüssige Stuhl, mit dem sie arbeitet, ist hochinfektiös. Es gilt die Sicherheitsstufe 2. Die Werkbank dröhnt wie eine Dunstabzugshaube. "Eine ständige Strömung saugt die Erosole in einen Filter nach oben", erklärt Rohde. "Alles Schutzmaßnahmen." Die notwendig sind, weil EHEC viel gefährlicher sei als zum Beispiel Salmonellen. "Schon wenige Bakterienzellen reichen zur Infektion", sagt Bakteriologe Holger Rohde. "Zehn bis 100 etwa. Bei Salmonellen müssen 100 000 aufgenommen werden, um zu erkranken." Rohde hat sich innerhalb von wenigen Tagen zum Fachmann von EHEC entwickelt. Er weiß fast alles über das Bakterium. Nur die Ursache, woher nämlich der Keim kommt, kann auch er nur erahnen. "Es ist wohl einmalig, dass es innerhalb von so wenigen Tagen zu einem so massiven Auftreten von Fallzahlen in Norddeutschland gekommen ist", sagt er. "Das hat man in der Epidemiologie in Deutschland noch nicht erlebt."

Sein Kollege Professor Aepfelbacher hofft, dass das Robert-Koch-Institut bald die Quelle findet. Die bisherigen Vermutungen, die auf mit Gülle gedüngten Salat oder Rohkost verweisen, hält er durchaus für schlüssig. "Vor ein paar Jahren hat es einen EHEC-Ausbruch in den USA gegeben. Damals durch Spinat." Derzeit sei völlig unklar, wie viele Menschen sich infiziert haben, sagt der Professor.

33 Patienten mit dem EHEC-Keim werden im UKE stationär behandelt. Neun der 21 Erwachsenen liegen auf der Intensivstation. Von den zwölf betroffenen Kindern werden sieben intensivmedizinisch betreut. 30 der 33 Patienten sind an HUS erkrankt. "Das kann richtig gefährlich werden", sagt Professor Rolf Stahl. Er ist Fachmann für Nierenerkrankungen. HUS zerstört die Niere, in seltenen Fällen auch das Gehirn, immer aber dünne Blutgefäße. Mit wenigen Strichen zeichnet Stahl eine Skizze von den feinen Äderchen auf ein Blatt Papier.

"Die Zellen am Blutgefäßrand verdicken sich, die Gefäße können sogar verstopfen. Außerdem werden die roten Blutkörperchen zerstört." Von 100 Patienten mit HUS stürben fünf. "Mortalitätsrisiko" nennen die Mediziner die Todesquote. "Wichtig ist ein früher Therapiebeginn", sagt Stahl. Therapie, das heißt Blutwäsche. "Es kommt darauf an, das Gift aus dem Blut wieder herauszuholen." Die Patienten müssen regelmäßig an die Dialyse-Maschinen, wo ihr Blut gereinigt wird. Andere erhalten frisches Blutplasma. Trotz der ungewöhnlich vielen Erkrankungen gebe es genug Dialyse-Plätze im UKE, auch ausreichend Plasma sei vorhanden. Das Personal werde aber strapaziert. Einige hätten das Wochenende durchgearbeitet. "Gestern bis halb vier morgens." Fünf bis 15 Blutwäschen seien pro Patient nötig, bis zu zwei Wochen könne das dauern.

Stephanie Lucka rechnet damit, dass ihre Söhne noch mindestens vier Wochen im Krankenhaus bleiben müssen. "Mit der Schule wird das dann in diesem Halbjahr nichts mehr", sagt sie. Sie lächelt ermutigend. Dann dreht sie sich weg. Sie sagt: "Ich habe furchtbare Angst." Sie sagt es leise. Die Jungs sollen es nicht hören.