Das elfjährige Pflegekind hatte offenbar Helfer bei seiner Flucht mit dem Lkw. Jugendamt rechtfertigt Unterbringung in einem Wanderzirkus.

Hamburg. Die Anzeichen, dass der elfjährige Jeremie nicht allein in einem Mercedes-Transporter aus dem Wanderzirkus Monaco in Lübtheen (Mecklenburg-Vorpommern) nach Hamburg flüchtete, verdichten sich. Laut Polizei und Bezirksamt sind in dem Wagen mehrere Anzeichen dafür gefunden worden, dass er in einer geplanten Aktion abgeholt worden sein könnte. Das würde den ohnehin bestehenden Verdacht nähren, dass sich der Junge im Kreise seiner Großfamilie aufhält. Am Freitag untersuchten Kripo-Ermittler den Wagen, um anhand von DNA- und Faserspuren festzustellen, ob der Junge tatsächlich am Steuer saß.

Das Jugendamt im Bezirk Mitte, das das Sorgerecht für den vermissten Jungen hat, rechtfertigte am Freitag die Unterbringung des Jungen in dem Wanderzirkus, aus dem er flüchtete. Eine Sprecherin betonte, dass sich in Hamburg kein Träger gefunden habe, der sich in der Lage sah, den Jungen zu betreuen. Außerdem habe man die Hoffnung gehabt, er würde in der Zirkusfamilie langfristig an ein eigenständiges Leben herangeführt werden. Zudem seien die Großeltern von der Idee angetan gewesen, und der Familienhintergrund - Jeremie stammt aus einer Sinti-Familie - habe nahegelegt, dass er sich auf Reisen wohlfühlen könnte.

"Wichtig ist zunächst, dass der Junge wohlbehalten gefunden wird", sagt Bezirksamts-Sprecherin Sorina Weiland. Wenn dies geschieht, würden alle Beteiligten an einen Tisch gerufen, um gemeinsam über die Zukunft des Jungen zu beraten. Wie berichtet, sagt die leibliche Familie des Jungen, dass Jeremie einen Richter sprechen wolle, um zu erreichen, dass er wieder bei Großvater und Großmutter leben darf. Das hatte allerdings vor zwei Jahren ein Gericht untersagt - unter anderem, weil er gewalttätig war und Opfer von Übergriffen in der Familie gewesen sein soll.

Jeremie ist eines von acht Hamburger Kindern, die über den Träger Neukirchener Erziehungsverein (NEV) in Maßnahmen der sogenannten Individualpädagogik untergebracht sind. Der überwiegende Teil der Kinder kommt aus dem Bezirk Mitte und lebt in Zirkusfamilien. Auch auf Bauern- und Ponyhöfen gibt es Unterbringungen. Ulrich Schäfer vom NEV: "Wir haben seit vielen Jahren bundesweit gute Erfahrungen mit dieser Art von Pädagogik, kümmern uns um Kinder, die aus zerrütteten Familien kommen, Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung erlebt haben, traumatisiert sind." Eine solche Individualbetreuung kostet die Stadt nach Auskunft der Grünen-Fraktion mehrere Tausend Euro monatlich.

Jeremies Eltern waren drogenabhängig, als das Kind zur Welt kam. An ihrer Stelle kümmerten sich die Großeltern in Billstedt um das Kind, das aber bereits im frühen Alter verhaltensauffällig wurde. Mit neun Jahren fiel er auf dem Dom mit einer Gaswaffe auf, er soll Klebstoff geschnüffelt, ein Auto geklaut und Sachbeschädigungen begangen haben. Seine Eltern und Großeltern bezichtigen die Ämter, ihnen das Kind abgenommen zu haben, auch weil sie Angehörige der Sinti sind.

Die Polizei sagt hinter vorgehaltener Hand, dass der Junge sich in einer der zahlreichen Wohnungen befindet, in der Mitglieder der Großfamilie leben. Doch auch, dass er sich allein in Hamburg bewegt, erscheint nicht ausgeschlossen. Deshalb bitten die Ermittler nach wie vor um Hinweise unter der Telefonnummer 428 65 67 89.

Sozialsenator Detlef Scheele will sich zu dem Fall nicht äußern: "Der Fall liegt im Zuständigkeitsbereich des Bezirks Mitte und so lange keine komplette Aufarbeitung vorhanden ist, kann die Sozialbehörde keine Stellung dazu beziehen", sagt Behördensprecherin Nicole Serocka. Auch zu der Frage, ob die Betreuung eines Jungen in diesem Alter im Rahmen einer individualpädagogischen Einrichtung sinnvoll sei, wolle der Senator, der zudem kein Pädagoge sei, nichts sagen, so Serocka.

Christoph de Vries, jugend- und familienpolitischer Sprecher der CDU, fordert Aufklärung darüber, ob die von Senator Detlef Scheele vorgelegten Ausschlusskriterien eingehalten wurden, die bei der Eignungsprüfung von Pflegeeltern angewendet werden. De Vries empfindet es auch als auffällig, dass erneut das Jugendamt Hamburg-Mitte im Blickpunkt stehe. "Man muss sich ernsthaft Sorgen darüber machen, ob der Schutz der Kinder, die von diesem Jugendamt betreut werden, überhaupt vollständig und jederzeit gewährleistet ist", sagt de Vries. Christiane Blömeke, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Grünen, sagt: "Dieser Fall wird immer dubioser." Ihre Fraktion fordert, das Thema am 4. Dezember im Familienausschuss zu behandeln.